Was macht man mit Schülern, die nicht wollen?
Wenn es keinen Grund gibt, etwas zu tun, dann ist das einer, es nicht zu tun. Und offensichtlich sehen viele Schüler oft keinen Grund, das zu tun was man von ihnen verlangt. Also tun sie es eben nicht – pünktlich sein zum Beispiel, anständig, kooperativ. Sie verweigern sich, verschlampen ihre Sachen, begegnen den Aufgaben (und jenen, die sie aufgeben) mit aufreizender Gleichgültigkeit.
Dumpfbackige Provokationen, Mobbing, Vandalismus, Gewalt, zelebrierte Faulheit sind allerdings nur die Spitze des Eisbergs, quasi die auf- und augenfälligen Spielarten, die Spielarten, die Schlagzeilen und Sitzungen produzieren. Das hat wohl auch damit zu tun, dass die Hemmschwellen gesunken sind. So meldet beispielsweise der Norddeutsche Rundfunk: «Die Zahl schwerer Gewaltvorfälle an Hamburgs Schulen ist im vergangenen Schuljahr um rund zehn Prozent gestiegen.»
Allerdings: Mit diesem Bild würde man den Schülern unrecht tun. Die Bandbreite der Ausdrucksformen schulischen Nichtwollens ist nämlich beachtlich. Und: Sich verweigern, das geht durchaus auch sozialverträglich und absolut systemkompatibel. So-tun-als-ob heisst eine entsprechende Konvention. Sie ist flächendeckend verbreitet und tritt in unzähligen Variationen auf. Und sie ist wohlgelitten. Denn man lässt sich auf einvernehmliche Weise in Ruhe.
In die gleiche Kategorie gehört die Devise «ja nicht auffallen». Dann läuft die Sache ziemlich stressfrei ab. Da kann man sich ruhig in die letzte Reihe setzen und sich geistig aus dem Kreidestaub machen – aber eben: nicht auffallen.
Einigermassen über die Runden kommt man überdies mit der Zlatan-Ibrahimovic-Methode: ein Spiel lang quasi inexistent sein, aber im entscheidenden Moment den Kopf oder den Fuss am richtigen Ort hinhalten (für Schüler: sich melden oder das Richtige aufs richtige Blatt scheiben). Diese subtile Variante des Nichtwollens lässt sich noch steigern, bis hin zum kreativ-kompetitiven Austesten des Systems – zum Beispiel gute Noten erzielen ohne je auch nur das geringste dafür getan zu haben.
Also: Nichtwollen ist selbstverständlicher und kulturprägender Teil des Schulsystems. Das ist keineswegs neu. Aber der Widerstand tritt wohl heute offener zutage. Ein Grund: Die Differenz zwischen dem, was in der Schule verlangt wird und dem, was die Lebensgestaltung erfolgreich macht, wird immer offensichtlicher. Das hat auch damit zu tun, dass die Bedeutung der Schule zunehmend reduziert wird auf Noten, Abschlüsse, Berechtigungen. Man spricht zwar von Inhalten, meint aber Noten. Und es ist eine alte Weisheit: Was hinten rauskommen soll, das bestimmt, was vorne geschieht. Kein Wunder, dass Schüler nicht wollen.
Nun sind die gleichen Schüler in anderen Lebensbereichen aber durchaus bereit, sich zu engagieren. Als Fans des FC Tupfingen reisen sie in die entfernteste weissrussische Provinz, um sich ein Europaliga-Spiel anzusehen, das sie sich nie und nimmer antun würden, wenn nicht der FC Tupfingen auf dem Rasen stünde. Sie nehmen Strapazen auf sich, investieren Geld und Ferientage – nicht wegen des Fussballs, nein, wegen ihres Vereins. Das Schlüsselwort heisst: Identifikation.
Es ist das gleiche Schlüsselwort, das für das Verhalten in der Schule handlungsleitend ist. Dazu stellen sich ein paar Fragen: In welchem Ausmass identifizieren sich Schüler mit dem was sie tun? Mit der Art und Weise, wie sie es tun? Mit den Menschen, mit denen zusammen sie es tun? Und mit jenen, die ihnen sagen, was sie tun sollen?
Die Antworten darauf lassen erkennen, wie sich das mit Wollen verhält. Dahinter steckt ein wichtiges Prinzip: je grösser die Identifikation, desto geringer der Widerstand – und umgekehrt. Das heisst: Wenn die Schule will, dass die Schüler wollen, muss sie Identifikation stiften. Denn: Man kann nichts gegen den Widerstand tun, nichts gegen Gleichgültigkeit, nichts gegen Aufschieberitis, nichts gegen Null Bock, nichts gegen So-tun-als-ob. Was man aber tun kann – und tun muss: Identifikation stiften. Und hier beginnt die Pädagogik. Kaum ein Schüler kommt nämlich in die Schule, weil er es kaum erwarten kann, sich mit Winkelhalbierenden zu beschäftigen. Identifikation entwickelt sich unterhalb dieser Sachebene, dort wo es um Verhalten geht und damit um Erfahrungen und Emotionen. Sie entsteht, wenn Menschen sich kompetent erleben, selbstwirksam, sozial eingebunden.
«Wer sich selber nicht mag», hat Friedrich Nietzsche einst zu bedenken gegeben, «ist fortwährend bereit, sich dafür zu rächen.» Identifikation stiften heisst demnach: dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche sich mögen – und zwar in der Schule. Und wann mögen sie sich? Wenn sie stolz sind, auf das, was sie tun. Und auf das, was sie damit erreichen. Und wie kann das gelingen? Was kann die Schule dafür tun? Wie kann sie identifikationsstiftend wirken?
Sie muss sich erstens für den einzelnen Lernenden interessieren. In einer Klasse sitzen dann eben nicht zwanzig Schüler, da sitzt zwanzig Mal ein Schüler, ein Individuum mit Stärken, Schwächen, Zielen. Und jeder dieser einzelnen Schüler muss sich kompetent erleben – beim Lernen, nicht beim Stören. Das heisst: Schule und Lehrpersonen haben sich in aktivierender Weise in den Dienst des Erfolgs des einzelnen Lernenden zu stellen. Misserfolg ist keine Alternative – zumindest keine identifikationsstiftende.
Zweitens: «Erfolg» braucht eine Bezugsnorm. Die wichtigste Bezugsgrösse für Heranwachsende sind die anderen Heranwachsenden. Gute Leistungen entstehen mit höherer Wahrscheinlichkeit in einem sozialen Kontext, in dem gute Leistungen als erstrebenswert betrachtet werden. Wer will schon als Streber gelten, falls er ein bisschen mehr tut als nur als allernötigste? Das stellt die Schule vor die Aufgabe, eine Leistungskultur zu etablieren, ein Klima, in dem es gut ist, gut zu sein. Peer-tutoring, also voneinander und miteinander lernen, ist beispielsweise ein wirkungsvoller, weil synergetischer Ansatz.
Und drittens müssen die Lehrpersonen selber Identifikation stiften. Das verlangt nach einer hohen pädagogischen Souveränität. Wohlverstanden: nicht fachliche Autorität, pädagogische Souveränität! Denn: Wer über pädagogische Souveränität verfügt, geniesst das Vertrauen und die Akzeptanz der Schüler. Souveränität schafft Autorität. Damit sind aber in keiner Weise die alten Unterwerfungsrituale gemeint. Nein, es geht um eine Form von Autorität, die darauf basiert, dass Schüler erkennen: Es ist gut, dass diese Person in meinem Leben ist – auch wenn es gar nicht immer angenehm sein muss, fordernd manchmal, herausfordernd. Denn was nicht herausfordernd ist, kann nicht als Erfolg verbucht werden.
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