Schüler haben ein Recht auf souveräne Erwachsene
Das Klagelied über „schwierige Schüler“ hallt landauf landab durch die Schulhausgänge. Und einige verhalten sich tatsächlich so – unkonzentriert, uninteressiert, unangepasst. Sie provozieren das System und seine Repräsentanten. Das generiert Schlagzeilen. «Das Leiden der Lehrer» (Sonntagszeitung 28.03.17), «Berner Lehrer schlagen Alarm» (20 Minuten 17.03.17), «Am Ende. Eine Primarlehrerin steigt aus» (Das Magazin 15.03.17), „Lehrer in Not“ (Weltwoche 30.03.17). Lehrer erfreuen sich medialer Beliebtheit, fast wie weiland das Waldsterben oder die Vogelgrippe. Die Erregungsbewirtschaftung endet zwar meist dort, wo sie immer endet: Bei der Forderung, dass irgendjemand endlich irgendetwas tun sollte – der Staat, die Eltern, die Gesellschaft.
Und doch: Ab und an legen die Diskussionen den Blick frei auf Entwicklungen, denen mit der üblichen Pflästerlipolitik nicht beizukommen ist, Entwicklungen, die das Selbstverständnis der Schule und ihres pädagogischen Personals gründlich infrage stellen. Und die Idee, diese Probleme mit ihren Ursachen lösen zu wollen, führt auf direktem Weg in den pädagogischen Konkurs. Doch wie der Kapitän, der mit seinem Vortrag über Navigation fortfährt, dieweil das Schiff sinkt, hält sich das Bildungssystem selbstimmunisierend die Zumutungen der Realität klagend vom Leibe.
Und wenn sich die Schüler vor dem Hintergrund ihrer real existierende Welt nicht nach den selbstgefälligen Vorstellungen der Schule richten, dann sind nicht etwa deren Konzepte falsch, sondern die Schüler. Kein Wunder, dass die Schüler in diesem Kontext ihre eigenen Ausweich- und Widerstandesstrategien perfektionieren. „So-tun-als-ob“ ist eine davon, sozialverträglich und entsprechend flächendeckend verbreitet. Doch: Warum sozialverträglich, wenn es bequemer und erst noch unterhaltender ist, den Impulsen auf vielfältige Weise freien Lauf zu lassen.
Aus professioneller Perspektive betrachtet ist das kein Problem. Es ist eine Aufgabe – eine Kernaufgabe für Schule und Lehrer. Und die Aufgabe heisst: pädagogisch Einfluss nehmen auf das Verhalten der Schüler. Erziehung sagt man dem. Das braucht Menschen, die das können, die das wollen, die es eben als ihre Aufgabe betrachten, die Gegenwart er Schüler zukunftsweisend zu beeinflussen. Im Klartext: Lehrer haben eine Führungs- und Erziehungsaufgabe.
Wer das (können) will, muss die sichere Deckung von Dreisätzen, Gerundien, Winkelhalbierenden und unregelmässigen Verben verlassen. Er muss sich in offenem Gelände mit den Situationen und Zielen der einzelnen Schüler auseinandersetzen. Diese Aufgabe hat wenig mit fachlicher und sehr viel mit pädagogischer Souveränität zu tun. Pädagogisch souveräne Persönlichkeiten sind fähig und willens, sich und die Schüler herauszufordern. Sie tragen nicht zu den Larmoyanzwerten im Lehrerzimmer bei, sie zeigen ein aktivierendes Interesse am einzelnen Schüler. Sie sprechen nicht über Menschen, sondern mit ihnen. Sie fühlen sich zuständig, übernehmen Verantwortung, sind präsent, eröffnen Spielräume und setzen Grenzen. Sie zeichnen sich aus durch Mut zu konstruktiver Unpopularität, der sich verbindet mit der Arbeit an einer vertrauensvollen professionellen Beziehung. Sie stehen über der Sache, auch wenn sie sitzen. Und sie lachen über sich selbst, bevor es andere tun. Und warum? Weil sie eben das Schülerverhalten nicht als Problem betrachten, sondern als Aufgabe. Und weil Kinder ein Recht haben auf souveräne Erwachsene – auch und gerade in der Schule.
Den Aussagen schließe ich mich im Sinne von „reframing“ an.