Normale werden massiv diskriminiert

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Einer Minderheit anzugehören, das lohnt sich in unserer Gesellschaft. Minderheiten werden diskriminiert. Und diskriminiert werden, das hat was für sich. Denn flugs nehmen sich Juristen und Politiker – den Eigennutz geschickt hinter Barmherzigkeit versteckend – den Erniedrigten an. Sie setzen sich medial dafür in Szene, dass Toilettentüren politisch korrekt angeschrieben und dass Gremien nicht nach Kompetenz, sondern nach Quoten zusammensetzt werden. Sie kümmern sich rührend darum, dass uralte Glockenspiele (Melodie: „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“) nicht die Gefühle empfindsamer Veganer verletzen¹. Und sie sorgen sich liebevoll darum, dass zerstörungswütige Chaoten besser behandelt werden als Parksünder.

Allerdings: Es gibt eine Ausnahme. Die am stärksten diskriminierte Minderheit – das sind nämlich die Normalen. Das sind jene, die nicht nur jeden Tag pünktlich zur Arbeit gehen, sondern das auch noch gerne tun, die ihre Rechnungen bezahlen, die den Abfall in die dafür vorgesehenen Kübel werfen und die „bitte oder „danke“ sagen. Traurig, aber ausgerechnet diese aussterbende Spezies verfügt über keine Lobby.

Eine Minderheit zeichnet sich gemäss der UNO-Deklaration zu den Minderheitenrechten von 1992 aus durch eine numerische Unterlegenheit im Vergleich zur Gesamtbevölkerung, eine nicht-dominante Stellung im Staat und durch ethnische, religiöse oder sprachliche Unterschiede gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Das alles trifft für die Normalen in ganz besonderem Masse zu. Kein Wunder, will niemand mehr normal sein. Und da sie eben keine Lobby haben, um sich in Szene zu setzen, unternehmen sie alles, um ihre Zugehörigkeit zu dieser Minderheit vertuschen. Gerade auch den Kindern will man die Schmach ersparen, normal zu sein. Die Pathologisierung des Alltags ist Wasser auf die Mühlen dieser Bemühungen. Denn Diagnosen aller Art erweisen sich als äusserst dienlich. Ein Hochbegabten-Burnout macht sich besonders gut. Aber auch mit einer Harfenstrauchallergie kann man den Nachwuchs wirkungsvoll vom diskriminierenden Normalsein abgrenzen. Das erleichtert das Dasein aller Beteiligten. Denn von Normalen wird ja gemeinhin erwartet, dass sie Leistung erbringen und Verantwortung übernehmen. Mit einer Diagnose ist man quasi offiziell davon entbunden.

Dieser Tage erscheint das „Diagnostische und statistische Handbuch für psychische Erkrankungen“ (DSM: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders). Es schreibt die Grenzen zwischen Normalität und Störungen fest und bestimmt so über Fördergelder, Rentenansprüche, Strafmasse, Therapien und Medikamente. Das heisst: Das Handbuch legt die Grenze fest zwischen „gesund“ und „krank“, zwischen „gestört“ und „normal“. Und die Grenzen sind deutlich nach unten verschoben worden. Was früher zur Normalität gehörte, wird heute durch eine Diagnose pathologisch salonfähig gemacht.

Das führte zu einer heftigen Debatte. Über zehntausend Mediziner wehrten mit der Begründung, durch die permissiven Definitionen und neuen Krankheitsbildern werde ein Heer von eingebildeten Kranken ausgehoben. An der Spitze der Kampagne, die in letzter Minute noch einige Änderungen abwenden konnte, stand der amerikanische Psychiater Allen Frances. Er sieht die Schwellen drastisch sinken. Vergesslichkeit und Zerstreutheit würden zur neurokognitiven Störung umgedeutet, Stimmungsschwankungen zur bipolaren Störung, Zorn zur Affektregulationsstörung. Aus allgemeinen Sorgen würden „Angst und depressive Störung, gemischt“, für reizbare und aggressive Kinder sei die „Disruptive Mood Dysregulation Disorder“ erfunden worden, für Schüchterne stehe die soziale Phobie bereit. Kurz: Ein unproblematisches Seelenleben kann bald nur noch der Haushaltsroboter führen. Wenigstens einer, der noch normal ist.


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In Limburg (Hessen) wird das Glockenspiel des Rathauses vorerst nicht mehr das alte Volkslied «Fuchs du hast die Gans gestohlen» erklingen lassen. Grund: Eine Veganerin fühlte sich durch die Melodie in ihren Gefühlen verletzt.

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