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Disziplinierung durch Noten: pädagogische Konkurserklärung

Wenn es um Schulnoten geht, hört der Spass auf. Der Kanton St. Gallen will das untere Ende der Notenskala abzwacken. Schüler sollen nicht mehr mit einer Eins oder einer Zwei (schlechteste Noten in der Schweiz) traktiert werden dürfen. Das füllt die Kommentarspalten. Und die Meinungen weichen nur sprachlich und orthografisch voneinander ab. Inhaltlich liegt man sich vom Stammtisch bis zum Audimax in trauter Einigkeit in den Armen: Es braucht schlechte Noten. Sonst würde man den Schülern praktisch den roten Teppich zum Nichtstun auslegen. «Dann machen sie gar nichts mehr» – so der meinungsmässige Einheitsbrei. Dem kann man zustimmen – wenn man unbelastet von lästigen Fakten darauf verzichtet, darüber nachzudenken.

Denn: Macht und Disziplinierung durch schlechte Noten – das ist eine pädagogische Konkurserklärung. Es legt schonungslos die haltungsmässigen Tiefenstrukturen der Schule offen. Und es führt zur Frage: Um was geht es eigentlich? Weit über zehntausend Stunden verbringen Kinder und Jugendliche in der Schule. Das ist verdammt viel Lebenszeit. Und es kostet verdammt viel Geld. Und das, was die Schüler dazu bringt, etwas zu tun, soll das Damoklesschwert der schlechten Noten sein, das drohend über ihren Köpfen schwebt? Das darf doch nicht wahr sein! Denn wenn die Schule die Strafnoten zur Disziplinierung wirklich braucht, dann wird damit explizit und implizit zum Ausdruck gebracht: In der Schule geht es um Noten. Und in der Tat: „Den Schülern wird die generelle Auffassung vermittelt, dass das Ziel der Schularbeit darin besteht, sich, egal mit welchen Mitteln, um gute Noten und nicht um das Verstehen der Sache zu bemühen». (Lehtinen 1997).

Lernen zum Zwecke der Wiedergabe an Proben und Prüfungen – ein beängstigend triviales Muster. Das hat schon Peter Bichsel ins Grübeln gebracht: „Hätte ich meine Schüler zu kritischen Menschen gemacht, zu Menschen, denen Entscheide schwerfallen, zu Menschen, die nicht nur in den Kategorien richtig und falsch denken, sie wären alle auf ihrem weiteren Schulweg gescheitert“ (Bichsel 1971). Und es hat ihn zur selbstkritischen Feststellung geführt: Meine Aufgabe als Lehrer hat eigentlich darin bestanden, Kinder mit Prüfungen auf Prüfungen vorzubereiten.

Nach allem was man weiss – wenn man es denn wirklich wissen und nicht einfach die Augen ein bisschen fester zusammenkneifen will – kommt man nicht um die Erkenntnis herum: Nicht nur die Noten am unteren Ende der Skala wegputzen – alle! Weg damit! Aber eben: Bei Schulnoten hört der Spass auf. Die emotional geführte Debatte um schulische Leistungen findet in einem speziellen Kosmos statt, in dem viele Regeln des gesunden Menschenverstandes ausser Kraft gesetzt sind.

Das ändert nichts daran: Noten korrumpieren Lernen. Ein enttrivialisiertes schulisches Lernen, das auf Verarbeitungstiefe und Nachhaltigkeit ausgerichtet ist, bedarf eines anderen, eines lernfordernden und lernfördernden Umgangs mit Leistungen. Zum Beispiel: Kompetenzraster (www.institut-beatenberg.ch/component/content/article.html?id=136) in Verbindung mit Portfolios.

In der medialen Empörungsbewirtschaftung um die Abschaffung der Einser und Zweier wurde ein Standpunkt prominent hervorgehoben: «Schlechte Leistungen sollen auch schlecht bewertet werden». Stimmt! Doch: An der schulischen Leistungserbringung ist ja nicht nur eine Person beteiligt. Denn wenn ein Schüler nach einigen Unterrichtsstunden einfach absolut nichts weiss und nichts kann (und Eins heisst ja: nichts gewusst, nichts gekonnt), dann muss man sich schon fragen, wie es dazu kommen konnte. Auf dem Weg zum Nichtswissen und Nichtskönnen waren schliesslich auch die Lehrpersonen mit von der Partie. Sie hatten Einfluss auf das Lerngeschehen. Will heissen: Wenn ein Schüler eine Leistung abliefert, die als jenseits von Gut und Böse beurteilt wird, hat das auch immer mit dem Lehrer zu tun. Noten lassen immer auch Rückschlüsse zu auf das System und auf die Person, die sie erteilt. Oder frei nach Descartes: Wie ein Lehrer ein Lernergebnis beurteilt, sagt mindestens so viel über ihn aus wie über den Schüler. Da verbindet die Forderung «schlechte Leistungen sollen auch schlecht bewertet werden» mit der Frage: Gilt das auch für die Arbeit der Lehrer? Und welche Konsequenzen hat das? Zum Beispiel auf das Arbeitszeugnis? Da gelten ja klare Regeln: In Arbeitszeugnissen sind negativen Formulierungen nicht erlaubt. Das darf offensichtlich einem Erwachsenen nicht zugemutet werden. Selbst lausigste Leistungen werden sprachlich so weichgespült, dass aus jedem faulen Sack ein Held der Arbeit wird. Schüler dagegen soll man mit Strafnoten piesacken. Und das erst noch mit einem Instrumentarium, das so ziemlich allem widerspricht, was man über Lernen weiss. Irgendetwas stimmt da nicht.

 

 

 




Pussyschule

Büne Huber, Frontmann von «Patent Ochsner», hat einen internationalen Hit gelandet. Weniger mit seiner Musik als mit einem launigen Manifest gegen den aktuellen «Pussyfussball». In einem Liveinterview in der Pause eines Eishockeyspiels beklagte er in markigen Worten, dass im Fussball, auf diesem Jahrmarkt der Eitelkeiten (z.B. Tätowierungen), Schein und Bschiss (z.B. Schwalben) das Geschehen dominierten.

Die Parallelen zu den Schulen sind augenfällig. Die Eitelkeiten beziehen sich zwar weniger auf Tattoos und Haarschnitte als auf die Zugehörigkeit zu Schularten (zum Beispiel Gymnasium und Universität). Schein und Bschiss sind aber ebenso weitverbreitet, denn es geht weniger um Inhalte als um Noten und Berechtigungen. Und mit dem ewigen Gejammer über den ach so unerträglichen Stress werden laufend verbale Schwalben produziert. Pussyschule halt.

«Die erschreckenden Bildungsdefizite junger Deutscher» titelt die Welt (11.04.15). Sie bezieht sich auf eine neue Studie, die offenbart, dass immer mehr junge Leute in Ausbildung und Studium kläglich scheitern. Einen Grund ortet man in der weit verbreiteten Kultur des Durchwinkens. Will heissen: Möglichst viele Jugendliche sollen mit dem Tattoo «Gymnasium» herumlaufen. Das hebt die Akademisierungsquote. Und das wiederum macht sich gut in den Statistiken. Und in den politischen Sonntagsreden.

Aber: Es bleibt nicht ohne Folgen. Jedenfalls beklagt die Studie fehlende Grundlagenkompetenzen bei den jungen Leuten – und zwar in erschreckendem Ausmasse. «Die politische gewollte Inflation der Bildungsabschlüsse», so die Welt, sei mit einer «dramatischen Absenkung der Anforderungen» erkauft worden.

Selbst ein flächendeckendes System von Nachhilfe – unverzichtbare Stütze des Schulsystems – könne nicht verhindern, weiss das Blatt zu berichten, «dass heutzutage ein erschreckend hoher Anteil der Lehrlinge und Studenten scheitert». Nötig seien, wird aus der Studie zitiert, neue und verbindliche Mindeststandards.

Klingt auf den ersten Blick vernünftig: Anforderungen – fachliche natürlich – raufsetzen. Und das Problem ist gelöst. Zwar würden sich möglicherweise die Gymnasien und Hochschulen ein bisschen entvölkern. Doch: Neue Standards heben den Bildungsstand nicht. In der Spitze nicht – und schon gar nicht in der Breite. Denn die Probleme lassen sich nicht mit dem Denken lösen, das die Probleme erst verursacht. Eines der Grundprobleme ist diese tief verwurzelte Idee, schulisches Lernen sei dazu da, Standards zu erfüllen. Hier liegt der Hund begraben Denn was hinten rauskommen soll, das bestimmt, was vorne geschieht. Oder wie es Bertrand Russell formuliert hat: «They work to pass and not to know, alas they pass and do not know.»

Das offenbart auch ein Blick auf die Maturaprüfungen der Berner Gymnasien. «Fast die Hälfte aller Maturanden hat in den letzten zwei Jahren eine ungenügende Maturanote in Mathematik geschrieben. Das Fach wird bewusst geopfert», weiss der Bund (04.02.15) zu berichten. Einer der befragten Gymnasialrektoren bringt die Sache auf den Punkt: Die angehenden Maturanden gingen «sehr ökonomisch vor, sie überlegen sich, wie sie mit kleinstem Aufwand zum grössten Erfolg kommen». Nur damit es klar ist: Der Begriff «Erfolg» wird dabei synonym verwendet für «Noten» und «Zulassung». Man nennt das auch «Hochschulreife». Denn dort geht es ja im selben Stil weiter: Welche Veranstaltung liefert mir mit geringstem Aufwand am meisten Punkte für den Bachelor?

Wenn nun also Schulen und Hochschulen mit zunehmendem Personal abnehmenden Erfolg produzieren, woran mag das denn liegen? Die materiellen Voraussetzungen waren noch nie so gut, der Gang an die Futtertröge der schulischen Bildung noch nie so einfach. Und die Bevölkerung wird im Schnitt auch nicht dümmer geworden sein.

Also: Woran liegt es denn?

Es muss an den beteiligten Menschen liegen. An wem oder was denn sonst? Das heisst: Es liegt am einzelnen Schüler und an seinen Fähigkeiten, mit Anforderungen so umzugehen, dass er stärker und klüger aus ihnen hervorgeht. Denn wachsen kann man nur an der Herausforderung.

Das müsste die Schule und ihre Exponenten zur Frage führen: (Wie) Werden junge Menschen in die Lage versetzt, fit zu sein für die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen des Lebens? (Wie) Lernen sie, ihr Lernen und ihr Leben erfolgreich zu gestalten? Und: Welche Beiträge hat die Schule dazu zu leisten?

Dabei geht es nicht um eine egoistische und quantitative Definition von «Erfolg». Es geht vielmehr um so etwas wie «Wertschöpfung». Ein bisschen weniger sperrig: mehr Werte generieren als Kosten verursachen.

Das führt zurück zu Büne Huber und seinem Plädoyer für das Eishockey. Die nordamerikanische Hockeyliga führt seit 1983 eine sogenannte Plus-Minus-Bilanz. Sie gibt für einen Feldspieler die Differenz von Toren und Gegentoren an, die gefallen sind, während er auf dem Eis war. Angeführt wird diese Bilanz von Wayne Gretzky, der im Rufe steht, bester Spieler aller Zeiten gewesen zu sein. Von ihm stammt das bemerkenswerte Zitat: «I skate to where the puck is going to be, not where it has been.» Ein Motto, das im wahrsten Sinne des Wortes Schule machen sollte.

Was braucht es, damit Menschen nicht nur im Eishockey zu einer positiven Plus-Minus-Bilanz kommen? Sie müssen dorthin gehen, wo der Puck kommen wird. Und was ist dort? Das Leben. Das Leben mit seinen vielfältigen und sich verändernden Herausforderungen.

Wie dieses Leben in einigen Jahren aussehen wird, das ist schwer zu sagen. Und welches Wissen die Menschen brauchen werden, auch für eine solche Prognose sollte man nicht leichtfertig die Hand ins Feuer legen. Was die Menschen aber sicher in ihr weiteres Leben mitnehmen werden, ist: sich selber. Daraus leitet sich die eigentlich wichtigste Aufgabe für die Schule ab: sich um die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler zu kümmern. Damit sie sagen können «I am my future» – was immer sie auch bringen mag.

Wer etwas erreichen will, muss etwas tun dafür, eine Leistung erbringen, sich anstrengen. Das verlangt, die Komfortzone zu verlassen, sich – auch gedanklich – dorthin zu begeben, wo es unbequem werden kann. Wie im Eishockey: Eine positive Plus-Minus-Bilanz kriegt, wer sich dorthin begibt, wo der Puck kommen wird. Das ist meist auch der Ort, wo man sich blaue Flecken holen kann.

Nun, blaue Flecken muss man sich ja im schulischen Kontext nicht unbedingt einhandeln. Aber: Komfortzone verlassen, sich den Unbequemlichkeiten stellen, das gilt auch für die Menschen in der Schule. Wer will, dass Schüler erfolgreich sind, muss ihnen etwas zutrauen. Aber mehr noch: muss ihnen auch und vor allem etwas zumuten. Ohne Weichspüler. Denn: Smooth seas do not make skillful sailors. Das klingt weder chillig noch easy. Ist es auch nicht. Und soll es auch nicht sein. Das Leben ist eine Aufgabe. Und wer es als Selbstbedienungsladen versteht muss sich bewusst sein: Irgendeinmal kommt man an der Kasse vorbei.

Was deshalb die Schule ihren Schülern (und dem Personal) versprechen muss: dass es anstrengend sein wird. Herausfordernd. Widerständig. Zuweilen auch unbequem. Dass es keine Abkürzung gibt. Und dass all dies genau das ist, was sie brauchen, um zu wachsen. Um gut zu werden. Um durchzuhalten. Um Widerstände zu meistern. Um stolz sein zu können auf sich. Um sich zu mögen.




Eltern hatten es leichter – weil sie es schwerer hatten

Irgendwie hatten es Eltern früher leichter – weil sie es schwerer hatten. Man wusste: die Milch stammt nicht vom Einkaufscenter. Und man wusste: Das Geld kommt nicht vom Bankkonto. Wer etwas will, muss etwas tun dafür – dieser gesellschaftliche Konsens hat die Erziehung massgeblich beeinflusst. Es gab kein Internet, dafür aufgeschürfte Knie und dreckige Fingernägel. An ADHS und Stress konnte man nicht leiden, weil es die Diagnosen noch gar nicht gab. Bei «Frühenglisch» wäre den staunenden Menschen der Unterkiefer ebenso auf die Tischplatte gefallen wie bei «pränataler musikalischer Förderung». Die Kinder waren einerseits eingebunden in die familiären Alltagspflichten. Sie hatten etwas Sinnvolles zu tun. Andrerseits waren sie auch einfach «draussen». Und um sich zu treffen, musste man sich organisieren. Ohne Handy notabene. Und ohne Taxi Mama. Auch der Schulweg fand draussen statt. Er war oft beschwerlich – und entsprechend gesund.

Doch das sind tempi passati. Die saturierte Gesellschaft der Gegenwart will es den Kindern einfacher machen. Bequemer. Sie sollen es besser haben, mehr geboten kriegen. Entsprechend werden die Kinderzimmer elektronisch aufgerüstet und die Bewohner mehr oder weniger sich selbst überlassen. So haben die meisten Eltern keinen Schimmer, wohin sich der Nachwuchs im Netz verkriecht. Aber es gibt auch die andere Seite: Die Kinder werden – als Investitionsprojekt ihrer Eltern – herumgereicht und herumchauffiert, vom Tennis ins Yoga zum Englisch für Höchstbegabte, um sich dann in der Nachhilfe noch am kleinen Latinum abzumühen.

Äussere Hektik wechselt sich ab mit innerer Leere vor dem Bildschirm. Fast zwei Drittel der Kinder möchten mit anderen spielen – selten tun sie es. Weil sie dann doch lieber drin bleiben bei den Steckdosen.

Die «Welt am Sonntag» (28.02.16) schlägt Alarm. Die Kinderkrankheiten sind um eine erweitert worden: Burn-out. Der Nachwuchs kommt mit den Anforderungen des Alltags immer weniger zurecht. Zwei Drittel geben in einer Umfrage an, die Hausaufgaben nur mithilfe der Eltern zu schaffen. Zwei Drittel! Gleichzeitig schaffen sie es aber locker, durchschnittlich mehrere Stunden pro Tag vor Bildschirmen die Zeit mit digitalem Schwachsinn totzuschlagen. Irgendetwas stimmt da nicht.

Um was geht es eigentlich? Die Antwort ist im Grunde genommen einfach: Kinder und Jugendlichen sollten fit sein fürs Leben. Das ist Ziel von Bildung und Erziehung. «Fit» – dafür gibt es über 120 Synonyme. Und alle stehen für positive menschliche Eigenschaften – Eigenschaften und Verhaltensmuster, die einen weiterbringen. Und die einen in die Lage versetzen, die Herausforderungen und Widerständigkeiten des Lebens zu meistern, souverän und unverkrampft.

Davon kann aber beileibe nicht die Rede sein, wenn der Kinderarzt sich mittlerweile auf Burn-out spezialisieren muss statt auf Masern und Röteln.

Das führt die «Welt» zur Forderung: «Kinder müssen lernen, selbstständig zu werden. Dazu gehört, sie den Umgang mit Stresssituationen lernen zu lassen. An Grenzen zu gelangen und sie auch mal zu überschreiten. Das setzt aber vor allem eines voraus; innere Stärke, Selbstvertrauen, die Zuversicht, es bei einem nächsten Anlauf zu schaffen.»

Ja, stimmt, kann man da nur sagen. Und wo lernt man das? Dort, wo es aufgeschürfte Knie und dreckige Fingernägel gibt – auch im übertragenen Sinne.

 




Benehmen als Schulfach: «Danke» haben wir noch nicht gehabt

Benehmen soll ein Schulfach werden. Kein Witz! Für drei Viertel der deutschen Bevölkerung gehört just das auf den Stundenplan. Für die Schweiz sehen die Zahlen ähnlich aus. Auch hierzulande wird es als Aufgabe der Schule betrachtet, dem Nachwuchs Flötentöne beizubringen.

«Hattet ihr heute Benehmen?» – «Nein, ist ausgefallen.» «Hast du die Hausaufgaben in Benehmen schon gemacht?» «Habt ihr in Benehmen schon gelernt, danke zu sagen?» – «Nein, das war noch nicht dran.»

Das ist natürlich Nonsens. Abgesehen davon, dass das Konzept der Schulfächer an sich revisionsbedürftig ist – benehmen und sich anständig verhalten lernt man nun wirklich nicht, weil es auf dem Stundenplan steht. Die Kinderstube lässt weder vor den Bildschirm verlagern noch durch Arbeitsblätter ersetzen.

Dennoch: Die Schule kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen und den Anstands-Schwarzpeter bequem an die Eltern zurückadressieren. Im Gegenteil: Schulisches Lernen ist nichts anderes als menschliches Verhalten. Die Menschen treffen sich in der Schule. Sie verhalten sich irgendwie. Und dieses Verhalten bringt sie irgendwo hin. Wer also will, dass Lernende erfolgreich sind, muss sich vorrangig um ihr Verhalten kümmern. Um ein Verhalten, das hilft, den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein. Und da gehört anständiges Benehmen dazu! Rücksicht. Respekt – sich, anderen und den Dingen gegenüber.

Aber: Jedes Verhalten steht in Abhängigkeit zum Kontext. Niemand geht beispielsweise in Badehosen vom Strand an eine Beerdigung. Nicht weil es verboten ist, sondern weil, was hier passt, sich dort nicht geziemt. Für die Schule heisst das: Eine Kultur aufbauen damit eine kontextuelle Bezugsnorm schaffen, die Respekt und Anstand zum Normalverhalten macht. Benehmen ist Alltag, kein Schulfach.

Eine der Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen ist allerdings, sich von Erwachsenen zu lösen, sich abzugrenzen. Abgrenzen kann man sich freilich nur, wenn es Grenzen gibt. Eine Kultur des Anstands braucht deshalb Grenzen. Eine Kultur des Anstands ist damit auch eine Einforderungskultur mit transparenten Erwartungen. Dabei geht es nicht um den kniggetauglichen Gebrauch der Schneckenzange oder des Austernlöffels. Es geht um elementare Dinge. Zum Beispiel, dass man lernt, «bitte» zu sagen. Oder «danke».

Dankbarkeit geht übrigens weit über anständiges Benehmen hinaus. Dankbarkeit steht für eine Werthaltung. Und Dankbarkeit fördert die Lebenszufriedenheit. Das hat eine Studie eindrücklich unter Beweis gestellt: Die Versuchspersonen nahmen sich am Abend jeweils fünf Minuten Zeit um aufzuschreiben, wofür sie an diesem Tag dankbar waren. Das ist wenig. Und doch unglaublich viel.




Weniger Leistung – weniger Schulstress?

Alarm! Alarm!: «Der hohe Leistungsdruck macht Schüler krank» – eine bedrohliche Schlagzeile [20 Minuten vom 25.01.16]. Und weiter im Text: «Schüler leiden an Schlafstörungen und greifen zu Schmerzmitteln.» Ein Schulrechts-Experte (auch das gibt es) forderte deshalb weniger Tests. Tags darauf trieb das Drama publizistisch einem neuen Höhepunkt zu: «Mein Sohn bricht regelmässig zusammen. Viele Schullektionen, Hausaufgaben ohne Ende und dauernder Prüfungsstress: Betroffene erzählen, wie sie die Schule ans Limit bringt.»

Nun, Prüfungen können in der Tat Sorgen bereiten – nicht nur den Kindern und Jugendlichen, sondern auch ihren Eltern. Bei Lichte besehen sind es aber nicht eigentlich die Prüfungen. Es sind die Noten. Denn Tests können – sind sie nicht mit expliziten oder impliziten Selektionswirkungen verbunden – einen durchaus positiven Effekt zeitigen (testing-effect).

Im gängigen Verständnis von Schule werden Prüfungen aber meist mit Noten und in der Folge mit Rangzuweisungen und Berechtigungen verbunden. Das dient weniger der schulischen und persönlichen Entwicklung der Schüler. Es dient vor allem jenen, die Prüfungen durchführen und Noten ausstellen dürfen. Es ist schlicht und ergreifend ein individuelles und institutionelles Machtinstrument. Und wie man weiss: Macht hat etwas Korrumpierendes. Die ganzen Beurteilungsmechanismen bestimmen denn auch das Denken und Handeln der beteiligten Menschen. Deshalb: Wer sich die Mühe nimmt, die Daten und Fakten hinter den ganzen Prüfungs- und Noteninszenierungen ein bisschen näher anzuschauen, wird sich kaum vor der Erkenntnis drücken können: aufhören damit!

Peter Bichsel, damals noch Lehrer, hat es zur Feststellung veranlasst: «Meine Aufgabe bestand darin, Schüler mit Prüfungen auf Prüfungen vorzubereiten.» Ernüchternd.

Die Universität St. Gallen hat es sich einfach gemacht. Sie hat den Studierenden alte Prüfungen vorgelegt – die zusammen mit den Resultaten schon auf dem Netz zu finden waren. Irgendwie symptomatisch.

Aber eigentlich liegt das individuelle Problem ohnehin ganz woanders. Denn Hand aufs Herz: Die überforderten Schüler fühlen sich nicht weniger überfordert, wenn man ihnen ein paar Prüfungen und ein paar Aufgaben erlässt.

In einer Forschungsarbeit hat man die Stresssymptome von Jugendlichen (in Deutschland) unter die Lupe genommen. Etwa ein Fünftel der «normalen» Jugendlichen (Normalstichprobe) – zeigte körperliche Auffälligkeiten wie Appetitlosigkeit, Bauch- oder Kopfschmerzen, ein Viertel klagte über Schlafprobleme und fast die Hälfte fühlte sich häufig erschöpft.

Ganz anders sah es aus bei Jugendlichen, die sich neben der Schule über eine längere Zeit zusätzlich in einem intensiven Zirkusprojekt engagierten. Das heisst: Sie waren erheblich stärker belastet. Neben dem gleichen Schulprogramm wie ihre «normalen» Kollegen, hatten sie eine Menge zusätzlicher Herausforderungen zu bewältigen. Eigentlich müssten sie sich also deutlich mehr gestresst gefühlt haben. Und eigentlich müssten sie entsprechend mehr Symptome zeigen. Nein! Das Gegenteil war der Fall. Acht- bis zehnmal weniger meldeten sie Beschwerden an. Also kaum der Rede wert.

Und es kann ja nicht verwundern. Denn eben: Nicht die Herausforderung, die Belastung ist das eigentliche Problem. Es ist Wahrnehmung (die nichts mit «wahr» zu tun hat). Und es ist der Umgang damit – die mentale Fitness, die Fähigkeit, Impulse zu kontrollieren und Gratifikationen aufzuschieben, die Fähigkeit, Herausforderungen anzunehmen und nicht auf den Weg des geringsten Widerstandes auszuweichen. Dafür liefert die einschlägige Forschung eindrückliche Ergebnisse. Aber eigentlich weiss das auch, wer ehrlich ist mit sich.

Und was lässt sich tun? Die Jugendlichen in die Lage versetzen, mit Herausforderungen konstruktiv umzugehen. Ihnen helfen, fit fürs Leben zu werden. Sie zu stärken. Empowerment heisst der englische Begriff dafür. Das beginnt dort, wo es unbequem wird. Wie jedes Training.




Heizer mit Immatrikulationshintergrund

Als die Dampflokomotiven ausrangiert wurden, brauchte es keine Heizer mehr. Logisch! Überhaupt nicht logisch! Denn bis weit in die heutige Zeit hinein fuhren die Heizer trotzdem im Führerstand mit – am längsten in England. Margaret Thatcher hat dann aber den Gewerkschaften den Tarif erklärt und die Heizer aus den elektrischen Lokomotiven wegrationalisiert. Das ist noch gar nicht so lange her.

Eigentlich verrückt. Da werden Leute ausgebildet, die es gar nicht braucht. Und dann werden sie irgendwie beschäftigt, weil sie ja da sind. Das ist wie wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt. Abwegig, bar jeder Vernunft. Könnte man meinen.

Doch: Wenn es um die akademische Ausbildung geht, scheint sich der gesunde Menschenverstand ebenfalls aus dem Kreidestaub gemacht zu haben. Gemäss dem schweizerischen Bundesamt für Statistik ist die Zahl der Absolventen in den Geistes- und Sozialwissenschaften zwischen 2002 und 2008 um 38 Prozent gestiegen. Mit welchen überlebenswichtigen Fragen man sich da auseinandersetzt, zeigt beispielsweise das Semesterprogramm der Literaturwissenschaften an der Universität Zürich. «Wie verhält sich die inhärente Pluralität literarischer Texte dazu, dass jeder literarische Text als solcher auch eine Singularität darstellt?» Oder nicht minder bedeutungsschwanger: «Was bedeutet der Prozess der Weltliteratur zum Grossen, Gleichen, Allgemeinen, wie behauptet sich das Kleine gegenüber dem Grossen, der einzelne poetische Text gegenüber der Weltliteratur?»

Der Sinn solch akademischer Sandkastenübungen erschliesst sich nicht jedem Normalsterblichen auf Anhieb. Wahrscheinlich sind sie – die Normalsterblichen – halt einfach zu weit weg von den heiligen Hallen des Geistes. Oder andersrum: Sie sind zu nah am tätigen Leben, an den Alltagsthemen – sie sind quasi realitätskontaminiert. Und mit Belanglosigkeiten – wie dem Leben – mag man sich in den Elfenbeintürmen ja nicht belasten. Das wäre ja unter jeder Würde: Wenn der Hochschulbetrieb sich von so etwas Profanem wie «Nutzen» müsste leiten lassen. So wird unentwegt Hochschulausbildung gefördert – um jeden Preis. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Eigentliche schade. Denn die Schweiz verfügt über ein elaboriertes duales Bildungssystem. Und es wäre wahrscheinlich allen besser gedient, dieses System flexibel an die sich verändernden Bedürfnisse anzupassen, statt die Leute massenweise in die Akademisierungsfalle zu locken.

Denn gerade auch im internationalen Vergleich zu jenen Ländern mit inflationär hohen Hochschulquoten ist hierzulande die (Jugend)Arbeitslosigkeit statistisch kaum existent.

Demgegenüber sind die Aussichten – zum Beispiel für die Absolventen der Sozial- und Geisteswissenschaften in den Niederungen der Arbeitswelt keineswegs rosig – ausser natürlich im öffentlichen Sektor. Trotzdem werden massenweise Leute ausgebildet, die es eigentlich nicht braucht. Aber wenn man sie nun schon ausgebildet hat, schafft man halt irgendwelche Beschäftigungen. Wie weiland für die Heizer auf elektrischen Lokomotiven. Heutzutage heizen sie zwar auch – die Bürokratie an. Und: Sie haben Immatrikulationshintergrund.

Die Heizer haben es sich damals an ihrem «Arbeitsplatz» entweder behaglich eingerichtet oder sie waren ob ihrer Überflüssigkeit frustriert. Weshalb soll das heute anders sein?




Bildungsdiskussionen nach der Methode des texanischen Scharfschützen

Fliegen ist gefährlich. Nein! In der Luft unterwegs zu sein in einem modernen Verkehrsflugzeug, das ist eine relative sichere Art zu reisen.

Fliegen ist gefährlich. Ja! Die Arme auszubreiten und vom Berg runterzufliegen, das kommt auf keinen Fall gut.

Mit anderen Worten: Fliegen ist nicht einfach Fliegen. Es kommt darauf an. Nicht das Was ist entscheidend, sondern das Wie. Es ist das Wie, das den Unterschied macht. Beim Fliegen. Beim Fussball. Beim Musizieren. Und: In der Schule. Ja, auch in der Schule.

Doch die Sprache in der Schule ist eine Was-Sprache. Und die Sprache über die Schule auch. Man nimmt einen Begriff aus der Was-Kiste – Individualisierung zum Beispiel oder Frontalunterricht oder Kompetenzraster oder ein anderes Reizwort – und flugs werden die Meinungshaubitzen in Stellung gebracht. «Das bringt nichts!» – «Doch, so lernen die Kinder viel besser!»

Reduziert auf Schlagworte entbrennen dann politische und mediale Diskussionen von einer kaum zu überbietenden argumentativen Schlichtheit. Oberflächlich und undifferenziert. Pädagogische Kulissenschieberei halt. Das beginnt schon beim Begriff «Lernen». Alle verwenden ihn. Aber kaum jemand nimmt sich je die Mühe zu definieren, was damit gemeint ist. Logisch. Denn von jetzt an ginge es intellektuell ans Eingemachte. Das erspart man sich doch lieber. Auf der Was-Ebene, unbelastet von vertiefter Auseinandersetzung, lässt sich ohnehin leichter reden.

Da orientiert man sich viel lieber an der Methode des texanischen Scharfschützen: Dieser Schütze schiesst ohne zu zielen auf ein Scheunentor, zeichnet anschliessend eine Zielscheibe um das Einschussloch und freut sich über den perfekten Treffer.

Schuldiskussionen auf der Was-Ebene bleiben im Vorzimmer des Denkens stecken. Denn ob man mehr oder weniger Mathematik «hat», ob man dem, was man tut «Individualisierung» sagt oder ob man Kompetenzraster einsetzt, das ist erst einmal völlig unerheblich. Auf das Wie kommt es nur an! Ob ein Lehrer seine Schüler begeistert oder ob er sie frontal frustiert in die Pause schickt, das hat nichts, aber auch gar nichts mit dem Begriff zu tun, den man dafür verwendet.

 




Aufmerksamkeit: Sogar der Goldfisch ist besser

Mittlerweile zeigt uns sogar der Goldfisch den Meister. Nicht im Schwimmen, das ginge ja noch. Nein, in der Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Neun Sekunden kann ein Goldfisch seine Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Sache richten. Das ist nicht berauschend viel. Aber immerhin, um seine Konzentrationsfähigkeit ist es besser bestellt als um jene des durchschnittlichen Menschen. Die sank nämliche von zwölf auf nunmehr lediglich acht Sekunden. Das heisst: Sogar der Goldfisch kann sich besser konzentrieren als der Mensch. Grund für diese rasant zunehmende Unfähigkeit, aufmerksam zu sein: die Digitalisierung des Lebens. Pikant: Die entsprechende Studie ist von Microsoft in Auftrag gegeben worden.

 

 




Was gibt es Gefährlicheres als den Advent?

Man kann die Adventszeit mögen oder nicht – für die Schule war das früher eine stimmungsvolle Zeit. Da brannten Kerzen, es roch nach Guetzli, mit spitzen Scheren wurde farbigen Papierbogen zu Leibe gerückt und Weihnachtslieder schafften es in den Status temporärer Ohrwürmer.

Aber eben: Früher! Dem lasterhaften Leben wurde Einhalt geboten. Und zwar gründlich. Worte wie Weihnachten oder Advent sind von einer Welle politischer Korrektheit aus dem schulischen Sprachschatz weggespült worden. Sie könnten religiöse Gefühle verletzen. Der Samichlaus und vor allem sein Schmutzli müssen sich nun auch den Winter über im finsteren Tann verstecken. Guetzli («Weihnachts» ist vorauseilendem Gehorsam zum Opfer gefallen) bedürfen einer umfassenden Deklaration von Zusatzstoffen und Allergenen. Auch am kalten Gebäck kann man sich deshalb leicht die Finger verbrennen. Und mit den ausgeschnitten grünen Blättern des oh Tannenbaums ist es sowieso vorbei. Spitze Scheren verletzen zwar nicht die Finger – aber die Sicherheitsvorschriften.

Apropos Sicherheit: Die «Anweisungen zu Sicherheits- und Brandschutzvorschriften im Umgang mit Kerzen im Unterricht» umfassen eine ganze Seite. So als seien alle vollkommen bescheuert, wird haarklein festgelegt, zu was die Lehrer sich mit ihrer Unterschrift verpflichten, wenn sie eine Kerze anzünden wollen «zur Erfüllung von bildungsrelevanten Zielen». Weit haben wir es gebracht.




Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen

Der personelle Stabilitätsfaktor in den Schulen sind die Schüler. Klar. Sie sind am längsten anwesend. Bei den Lehrpersonen dagegen herrscht ein dauerndes Kommen und Gehen. Mehr als zwei Drittel arbeiten Teilzeit, häufig in kleinen Pensen. Viele schöpfen aus genau dieser Quelle ihre berufliche Motivation. In entsprechend atomisierten Teilmengen sind die Verantwortlichkeiten organisiert – inhaltlich, zeitlich und räumlich. Damit einher geht ein Prinzip der Abgrenzung und der Nichtzuständigkeit. Und das ist ungefähr das Gegenteil von dem, was es braucht, um ein Kind zu erziehen: ein ganzes Dorf. Dörfliche Strukturen leben von einer vielfältigen Vernetzung und bilden auf diese Weise ein transparentes Bezugssystem. Das vermittelt das Gefühl, auf differenzierte Weise wahrgenommen zu werden. Kommunikation mit dem Einzelnen ist damit auch Kommunikation mit dem System. Das heisst: Wer sich nützlich macht, wird eine breitere Anerkennung finden. Und wer sich daneben benimmt, kann nicht so mir nichts dir nichts in die Anonymität entwischen.

Schon den Römern war klar: divide et impera – teile und herrsche. Trennung, das ist das organisatorische Prinzip der öffentlichen Schule. Sie ist die wahre Privatschule – jede Klasse ist privat. Das schafft Unmengen von Refugien. Nicht nur für die Schüler.

Deshalb: Um ein Kind zu bilden braucht es ein ganzes Dorf, ein transparentes und präsentes System. Das ist mehr als ein punktuelles Zusammentreffen von Partikularinteressen. Viel mehr.




Der Heizwert von Zeugnissen

Ein Blick in die Stellenanzeigen macht deutlich, worauf es ankommt: Die Menschen sollen zuverlässig sein, belastbar und kreativ, sie sollen sich in ein Team einfügen, fähig und willens sein, Verantwortung zu übernehmen, sich auszeichnen durch Engagement und Motivation.

Aber nicht nur in der Arbeitswelt, auch privat ist man in der Regel gut beraten mit Menschen, die charakterlich ein bisschen was drauf haben.

Und niemand käme auf die Idee, dafür irgendeine Note zu geben oder zu verlangen. «Wenn du mit mir zusammensein willst, brauchst du in Teamfähigkeit eine 4,25.» «Und in Zuverlässigkeit läuft nichts unter einer Viereinhalb.» Dort, wo es also quasi um die Wurst geht, verzichtet man auf Noten. Mehr noch: Man kommt schon gar nicht auf den absurden Gedanken.

Dafür fühlt man sich auf den Nebenbühnen des Lebens – in der Schule – bemüssigt, alles und jedes in Noten auszudrücken – auf drei Kommastellen natürlich. Dann kriegt jemand in Deutsch eine 4,015. Nein, vielleicht rundet man die Note auf: 4,02. Getreu dem Motto: Je unklarer die Bezugsnorm, desto beliebiger lässt sich eine Leistung in Noten ausdrücken. Die Forschung zeigt: Im Vergleich zur Notengebung ist Kaffeesatzlesen eine exakte Wissenschaft. Aber die Kommastellen gaukeln Exaktheit vor. Die Stirne in Falten werfen, mit leiser und sorgenschwangerer Stimme die Eltern mit der bitteren Wahrheit konfrontieren: «Ihre Tochter hat leider nur eine nur eine 3,714. Das reicht halt nicht fürs Gymnasium!» Klar. Logisch. 3,714, das reicht nicht. Wahrlich bitter.

Und das Verrückte: Es gibt sogar Menschen, die solchen Quatsch glauben. Unbeirrt. Obschon der Aussagewert von Zeugnissen deutlich geringer ist als ihr Heizwert.




Auf digitalen Abwegen

«Wie viele Nachrichten kriegst du pro Stunde auf dein Smartphone?» Bei etwa einem Drittel der Jugendlichen ist das überblickbar: eine bis fünf Nachrichten. Pro Stunde. Bei etwa einem Fünftel klingelt oder vibriert es häufiger: fünf bis zehn Mal pro Stunde. Oder anders gesagt: alle paar Minuten. Das ist zwar viel – und trotzdem wenig. Denn: Ein grosser Teil der Jugendlichen muss zwischen zehn und fünfzig Mal auf das Handy schauen – pro Stunde. Da nützt es nichts, wenn in Schulen die Regel heisst: Das Handy darf dabei sein, es darf einfach den Unterricht nicht stören. So ein Quatsch! Es stört vielleicht den Lehrer nicht, wenn die Schülerhandys nicht klingeln. Aber die Schüler selber? Wenn sie wissen (oder die Vibration es ihnen ankündigt), dass sie dauernd irgendwelche Meldungen erhalten? Sie werden sich auf eines nicht konzentrieren können: auf das Thema, um das es im Unterricht geht.

 




Ist man ein schlechtes Vorbild, wenn man selber denkt?

Situation 1: Auf einer der kompliziertesten Kreuzung Englands – in Beverly (East Yorkshire) – sind sämtliche Ampeln ausgefallen. Und das sind nicht weniger als 42 Stück. Zwanzig verschiedene Verkehrsflüsse werden normalerweise durch die Lichter geregelt. Und an neun Stellen wird ein sicherer Übergang für Fussgänger geboten. Und plötzlich: Aus! Und, das grosse Chaos? Nein, keineswegs, das Gegenteil traf ein! Die ganze geballte Ladung aus Menschen und Blech bewegte sich vollkommen flüssig durch das Gewirr von Strassen. Die Menschen mussten einfach aufeinander achten. Und das taten sie.

Situation 2: Eine grosse Kreuzung in Buenos Aires, die Ampel steht auf Rot. Der Taxifahrer lässt sich dadurch nicht beirren. Er fährt einfach weiter. «Das Stoppsignal an der Ampel ist nur ein Vorschlag», erklärt er schmunzelnd, «aber ich muss halt auf die anderen Autos achten.» Und er ist bei weitem nicht der Einzige, der sich über die Rotlichter hinwegsetzt. Auffällig: Unfälle passieren deshalb nicht mehr als hierzulande.

Situation 3: An einem Fussgängerstreifen in einer grossen Stadt, das Ampelmännchen leuchtet rot auf. Weit und breit ist kein Auto zu sehen. Deshalb überquert ein Mann zielstrebig die Strasse. Ein Frau, die mit ihrem Kind vor der Ampel ausharrt, ruft ihm nach: «Sie sind ein schlechtes Vorbild für mein Kind.» Antwort des Mannes: «Nein, ich bin ein gutes Vorbild. Ich kann selber denken und entsprechend handeln.»

Alles soll bis ins Kleinste gesteuert werden, geregelt, in Bahnen gelenkt. Wenn die Ampel auf Rot steht, hat man zu warten, auch wenn sich von nirgendwo ein Auto nähert. Das macht zwar überhaupt keinen Sinn. Aber es ist gut geregelt. Ähnlich verhält es sich mit dem Verkehrsfluss durch die Schule. Wie an Ampeln werden die Schüler mit Stundenplänen und Jahrgangsklassen eingespurt und paketweise weitergereicht zur nächsten Kreuzung. Das produziert zwar Unmengen von Leerlauf. Aber es ist gut geregelt.

Was auf der Strecke bleibt, ist die Eigenverantwortung. Dabei ginge es um das. Genau um das: sich zuständig zu fühlen. Jetzt! Hier!

Stärke die Autonomie der kleinsten Einheit, muss deshalb die Devise lauten. Denn schliesslich sollen Lernende fähig werden, selber zu denken und verantwortungsvoll zu handeln.

PS: Wer mit der Herde geht, kann nur den Ärschen folgen.




Organisierte Unverantwortlichkeit

«Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen.» Dieses Diktum stammt aus Afrika. Das Dorf als wirtschaftlich-kultureller Organismus fühlte sich kollektiv verantwortlich für Bildung und Erziehung. Das Sprichwort könnte auch ein hiesiges sein. Denn: Noch ist es nicht allzu lange her, galt ein ähnliches Verständnis auch hierzulande. Und: Schule und Lehrer waren Teil dieses Dorfes – identitätsstiftender Teil.

Tempi passati. Heute ist Splitting angesagt und Sharing – vom Auto über den Job bis zur Familie. Da braucht man nicht Position zu beziehen wie früher im Dorf. Zuständig sind ja die anderen. Organisierte Unverantwortlichkeit heisst das Stichwort. «Ich bin als Lehrer nur zuständig für Mathematik.» Das ist bequem. Und falsch. «Wenn ein Schüler nicht will, ist er selber schuld.» Das ist bequem. Und falsch. «Die Schule kann ja nicht der Reparaturbetrieb für die Gesellschaft sein.» Das ist auch bequem. Und auch falsch.

Denn genau das ist Aufgabe der Schule: sich zuständig zu fühlen, zuständig für eine integrale Form von Bildung und Erziehung im Verständnis des englischen «Education». Und weshalb? Weil es sich nicht trennen lässt. Deshalb! Schlicht und einfach. Das war in den nahen und fernen dörflichen Strukturen selbstverständlich. Weil man sich eben zuständig fühlte. Weil man sich weniger abgrenzte. Weil man präsent war. Und weil man die Kinder nicht einfach vor den Bildschirm setzen oder in die Therapie schicken konnte.

PS: Als Internat pflegen wir dieses «dörfliche» Verständnis von Bildung und Erziehung. Das ist zwar mitunter unbequem. Aber es macht Spass. Weil es unbequem ist …




Von Fussball, Kartoffelbirnen und «neuem» Lernen

Wer dem Gekicke zwischen dem FC Chlepfmoos und der 2. Mannschaft des FC Hinterwald-Bachen beiwohnt, weiss, dass das Spiel «Fussball» genannt wird. Aber er weiss auch, dass das Spiel gleichen Namens zwischen Bayern München und Real Madrid sich völlig anders präsentiert. Fussball ist eben nicht einfach Fussball. Auch wenn die Tore gleich gross, der Ball gleich rund und die Spieler ähnlich tätowiert sind – es liegen Welten zwischen dem Sportplatz Chlepfmoos und der Allianz Arena in München. Denn Vergleichbarkeit hängt nicht nur von den Vergleichsobjekten ab, sondern auch von den Vergleichskriterien.

Das heisst: Wer vergleichen will, muss sich mit den Kriterien auseinandergesetzt haben. Je differenzierter die Darstellung sein soll, desto mehr Sachverstand ist vonnöten.

Aber unbelastet von Sachverstand lässt sich’s leichter auf die Pauke hauen. Der Biertisch ist dafür ein Beispiel – dem viele Medien nur allzu gerne folgen.

Da entscheidet sich beispielsweise eine Schule für «Individualisierung» oder für «Kompetenzorientierung» oder für «offenes Lernen» oder für ein anderes populäres Schlagwort aus der pädagogischen Wundertüte. Was dann aus diesem Schlagwort gemacht wird, mit welchem Engagement und mit welcher Kompetenz es vom einzelnen Lehrer in den schulischen Arbeitsalltag umgesetzt wird, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Die Unterschiede sind ähnlich gross wie zwischen Chlepfmoos und Bayern München. Fussball ist eben nicht einfach Fussball. Und «offenes Lernen» ist nicht einfach «offenes Lernen». Aber das scheint publizistisch keine Rolle zu spielen.

Man fühlt sich an Max Frisch erinnert: „Nichts leichter als das: man schneidet eine Kartoffel zurecht, bis sie wie eine Birne aussieht, dann beisst man hinein und empört sich vor aller Öffentlichkeit, dass es nicht nach Birne schmeckt, ganz und gar nicht!»

Der publizistische und politische Umgang mit Veränderungen im Bildungswesen verläuft nach ähnlichen Strickmustern: Man nimmt eine Schule, die sich mit neueren Formen von schulischem Lernen schwertut und empört sich in aller Öffentlichkeit darüber, dass «Individualisierung» oder «selbstständiges Lernen» oder «offener Unterricht» (die Liste der Begriffe lässt sich in verschiedenen Kombinationen beliebig erweitern) – dass all dies schnurstracks ins Elend schulischen Dumpfbackentums führe. Und besorgte bildungsnahe Eltern sehen ihre Kinder schon der glänzenden Karrieren beraubt unter Brücken schlafen.

Deshalb noch einmal: Fussball ist nicht einfach Fussball. Kartoffeln sind nicht Birnen (auch wenn sie sich so zurechtschneidet). Und «neues Lernen» – oder wie man auch immer sagen will – ist nicht per se gut oder schlecht. Es kommt drauf an, was aus dem Begriff gemacht wird. Und womit man vergleicht.