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INHIBITION: Stoppschild im Gehirn

Mani Matter – den Bernern ein Begriff – hat der Nachwelt eine Reihe höchst intelligenter Mundartlieder hinterlassen. Eines davon: «Hemmige». Zu Deutsch: Hemmungen.
Und – so die mattersche Kurzphilosophie – weil die Menschen Hemmungen haben, unterscheiden sie sich vom Schimpansen. Manchmal.
Eine Spur weniger amüsant klingt das Gleiche in der Fachsprache. «Inhibition». Inhibition unterscheidet also nicht nur Menschen von Schimpansen, sondern auch die Menschen untereinander. Und zwar deutlich.
Inhibition versteht sich als eine Art Stoppschild im Gehirn, eine Aufforderung, bestimmte Dinge zu unterlassen, weil sie die eigenen Vorsätze und Ziele korrumpieren. Es unterscheidet jene, die auf die nächste Schokolade, die nächste Ausrede, das nächste Krankfeiern verzichten wollen von jenen, die es dann auch tatsächlich schaffen.
Wenn das Stoppschild im Gehirn gut funktioniert, dann klappt es mit der Frustrationstoleranz – mit dem Durchhalten beispielsweise, auch wenn es schwierig wird. Oder: Mit dem Gratifikationsaufschub – etwas tun, ohne zuerst schon mal etwas zu erwarten dafür. Oder: Mit der Impulskontrolle – sich im Griff haben.
Inhibition hat sich zu einem Schlüsselerfordernis der Gegenwart entwickelt. Gerade in Zeiten, in denen alles und jedes verfügbar scheint. Wer sich und seinen Mitmenschen etwas Gutes tun will, schenke ihnen ein rechtes Stück Inhibition.




Das Ende des Lustprinzips

Dass Heranwachsende ab und an keine Lust bekunden, sich mit schulischen Themen zu beschäftigen, das ist nicht neu. Und das liegt keineswegs nur an den Kindern. Was sich hingegen verändert hat, ist der Umgang mit der jugendlichen Nonchalance, keine Lust zu verspüren. Es hat sich zu einer Art Menschenrecht entwickelt, Sachen nicht zu mögen, besonders natürlich, wenn es um Arbeit und Verpflichtungen geht.
Fehlende Frustrationstoleranz heisst das erweiterte Synonym für dieses sich demonstrativ gequält dahinziehende «Neeeee, keine Lust, ich mag nicht».
Keine Lust zu haben, keine Lust haben zu müssen, das hat sich als Lebenshaltung etabliert. Und es funktioniert ja.
Die zeitgeistprägende Lustlosigkeit findet quer durch alle schulischen Arrangements hindurch viel gutmenschenverstehende Nachsicht. Für alles gibt es einen Grund (um den Begriff «Ausrede» zu vermeiden). Folge: Die Frustrationstoleranz verabschiedet sich zunehmend aus der Schule. Selbst sie hat sozusagen die Lust verloren. Dabei ist gerade die Fähigkeit, sich zu überwinden, sich nicht den Sirenengesängen des inneren Schweinehundes auszuliefern, ein Garant für Erfolg – und Zufriedenheit.
Das Gegenmittel zu «Es pisst mich an» (oder ein bisschen sozialverträglicher «ich bin halt nicht motiviert» ist eine Art mentaler Tritt in den Hintern. Das Gegenmittel ist die Aufforderung, sein Leben aktiv in die Hand zu nehmen – subito und allen augenrollenden Widerständen zum Trotz. Willkommen im Leben!
Wer seinen Kindern (oder anderen, die es nötig haben) einen Gefallen tun will, führt sie auf den Weg, der schnurstracks aus der Bequemlichkeit herausführt, dorthin, wo es zuweilen anstrengend ist, wo es mitunter «anscheisst». Denn die Menschen, die einen beim Jammern unterstützen, sind keine hilfreichen Weggefährten, wenn es darum geht, etwas aus sich zu machen.
Der Widerstand gegenüber schulischen oder anderen Anforderungssituationen kann sich auf unterschiedliche Weise zeigen. So tun als ob ist eine beliebte und sozialverträgliche Form. Dem schulischen Widerstandsverhalten sind auf der nach oben offenen Destruktions-Skala – zumindest gedanklich – keine Grenzen gesetzt.
Und das Problem: Man kann nichts gegen den Widerstand tun. Nur etwas für die Identifikation. Je grösser die Identifikation, desto geringer der Widerstand.

Identifikation, sich ein Stück weit als zugehörig erleben, das kann sich in unterschiedlichen Varianten zeigen. Das gilt in übertragenem Sinne auch für die Schule: Lernende müssen sich auf eine Art identifizieren mit ihrer Rolle – mit dem, was sie tun und mit den Menschen, mit denen sie es tun.




Schonen schadet. Oder: Pädagogisches Hybridmodell

Die Zahlen sind ernüchternd: Mehr als die Hälfte der Lehrer hierzulande fühlt sich „dauernd oder meistens“ überlastet. Und was bringt die Schulmeister flächendeckend in die Bredouille? Es sind nicht die bynomischen Formeln, nicht das Adverbiale des Ortes, nicht die Nagelfluh der Rigi – es ist das Verhalten der Sprösslinge. Eine „systematischen Demontage“ dessen, was einer erfolgreichen Entwicklung zuträglich ist, macht sich breit. Auf der Strecke bleiben ebenso elementare wie zentrale Fähigkeiten – mit Widerständen konstruktiv umgehen beispielsweise – mehr “liefere statt lafere“, die Lösung bei sich selber suchen, das längerfristige Ziel dem kurzfristigen Lustprinzip überzuordnen. Das riecht alles nicht so „easy Mann“. Im Gegenteil: Anstrengung ist angesagt, Unbequemlichkeit. Logisch, was denn sonst? Entwicklung braucht Herausforderung. Darum geht es: um Entwicklung, darum, aus sich und seinen Ressourcen etwas zu machen. Eben: Entwicklung, sich weniger Zeit zu lassen beim Anfangen und entsprechend weniger Gas zu geben beim Aufhören.
Das treibt die Lehrer scharenweise vor die innere Klagemauer. Der Beruf wäre doch viel einfacher ohne die Schüler, die schon bei der erstbesten Gelegenheit (oder womöglich noch vorher) demonstrativ überfordert den Bettel hinschmeissen, die es mit beachtlichem Erfolg fertigbringen, schulische Leistungsanforderungen von ihren eigenen Interessen fernzuhalten. Dabei werden die Forderungen nach einem leistungsbereiten Verhalten quer durch alle Schul- und Lehrerzimmer immer und immer wieder erhoben.
Doch: Es reicht nicht, von den Schülern ein dienliches Verhalten zu erwarten oder zu verlangen. Die leitende Frage heisst nicht: Was müssen sie Schüler tun? Die Frage heisst: Was müssen die Erwachsenen (zum Beispiel der einzelne Lehrer) tun, damit ihre Kinder sich der Herausforderung der Entwicklung stellen? Und damit sie es gerne tun? Das heisst: Das, was Schüler oder unterlassen ist ein Ergebnis dessen, was Lehrer tun (oder unterlassen). Man nennt dies auch „Erziehung“. Dem Begriff weht ein kulturkämpferischer Beigeschmack entgegen. Neutraler: „Die pädagogische Einflussnahme auf das Verhalten und die Entwicklung.“ Und da man sich nicht Nichtverhalten kann, geht es im Kontext von Schule zuerst und vor allem darum: Erziehung
„Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“, erinnert ein afrikanisches Sprichwort. Es liefert einen Hinweis darauf, dass die heutigen teilzeitliche Kommen-und-Gehen-Lehreranstellungen einer stabilen, strukturfördernden professionellen Beziehung nicht eben förderlich sind. Die selbstgewählte Isolation der Lehrer auf ihren einsamen Unterrichtsinseln ist ineffektiv. Und macht krank.
Der Weg muss wegführen vom „Ich und meine Klasse“ hin zum „Wir und unsere Schule“. Es geht darum, in einem pädagogischen Hybridmodell die Ressourcen der verschiedenen Akteure – Schüler, Lehrer, Eltern – viel unterstützender und wirkungsvoller zu nutzen. Nachhaltiger. Entspannter.




Eltern – Schreckgespenste vor dem Lehrerzimmer

Die Beziehung zwischen Eltern und Lehrerschaft ist meistens gar keine. Wenn man nichts miteinander zu tun hat, grenzt das schon fast an einen Idealzustand. Meldet sich die Schule zu Hause, ist meistens Ärger im Verzug. Und die Eltern erscheinen im Gegenzug auch nicht gerade als die grossen Helfer der ohnehin leidgeprüften Lehrerschaft. Im Gegenteil: Das Bild der anwaltlich unterstützten Überalldreinreder wird als Schreckensgespenst flächendeckend an die Lehrerzimmertüren gepinselt.

Eigentlich verrückt. Da gibt es Menschen auf diesem Planeten, die sind beruflich eng miteinander verbunden. Und letztlich sollten sie von den gleichen Interessen geleitet sein, vom Erfolg des einzelnen Lernenden nämlich. Dafür sind zwei Dinge erforderlich: Erstens eine Verständigung darüber, was aus welchen Gründen unter «Erfolg» zu verstehen ist. Und zweitens eine Klärung, wer welche Verantwortung dafür übernimmt. «Transparenz» heisst das Stichwort. Und «miteinander reden» die Verpflichtung, die sich daraus ergibt. Dabei ist klar: Die Verantwortung für einen interessierten und zielführenden Dialog liegt primär bei der Schule. Es ist ihre Aufgabe, aus Betroffenen Beteiligte zu machen. Und zwar systematisch. Entkrampft. Und proaktiv. Das setzt voraus, sich professionell und souverän aus dem Feld von Rechtfertigung und Schuldzuweisung verabschieden. Und das wiederum ist ungefähr das Gegenteil lustlosen Abarbeitens von Protokollformularen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit für Menschen, die mit Menschen arbeiten. Aber das ist vielleicht ein Knackpunkt: Das Bewusstsein, dass es um Menschen geht, um ihr Verhalten, um ihre Leistungen, um ihren Erfolg – und nicht um Schulstoff. Denn dem Schulstoff ist es Wurst, was man mit ihm macht. Und ob überhaupt. Aber den Schülern nicht. Und den Eltern in der Regel auch nicht. Zum Glück.




Das Frosch-Prinzip. Oder: Zurück zur Erziehung

Was passiert, wenn man einen Frosch in einen Topf mit kochendem Wasser schmeisst? Er springt raus und zwar wie von der Tarantel gestochen. Angenommen, man stellt einen Topf mit handwarmem Wasser auf den Herd, setzt den Frosch hinein und dreht die die Temperatur der Kochplatte hoch. Was passiert jetzt? Der Frosch passt als wechselwarme Kreatur seine eigene Körpertemperatur dem immer heisser werdenden Wasser an. Und plötzlich ist es zu spät. Er wartet zu lange und endet gekocht. Und die Moral von der Geschicht‘: Verpass den Moment des Handelns nicht!

Das Leben ist geprägt von solchen allmählichen Entwicklungen. Kinder wachsen und den Eltern fällt es erst auf, wenn die Hosen zu kurz sind. Irgendeinmal hat man beim Blick in den Spiegel das Gefühl, es sei an der Zeit, die Haare zu schneiden. Und wenn sich der Blick trübt, ist es an der Zeit, wieder einmal die Fenster zu putzen oder die Brillengläser. Veränderungsprozesse verlaufen meist unmerklich, hier ein bisschen, da ein bisschen, unauffällig, schleichend.

Zerfallserscheinungen an Gebäuden vollziehen sich zum Beispiel in solcher Weise. Hier fehlt eine Schraube, da funktioniert der Lichtschalter nicht mehr, dort bleibt ein Fleck ungereinigt. Für sich genommen sind das Kinkerlitzchen, nicht der Rede wert. Aber in der Summe und auf die Dauer geht es an die Substanz. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und irgendeinmal lässt sich die materielle Agonie nicht mehr kaschieren.

Menschen und Systeme, Werte, Haltungen und Verhaltensweisen unterliegen auf ihre Weise ebenfalls dem Prinzip des schleichenden, sich der unmittelbaren Aufmerksamkeit entziehenden Wandels. Mit anderen Worten: Auch die Schule ist davon betroffen – ihre Selbst- und Fremdwahrnehmung, ihre Rolle, ihre Bedeutung.

Dabei geht es ihr ähnlich wie dem Frosch. Er war nicht fähig zu erkennen (und zu verstehen), dass ausserhalb des Topfes die Bedingungen sich verändern. Und dass die Veränderungsprozesse von einem bestimmten Punkt an nicht mehr mit den gewohnten Mustern zu bewältigen sein würden.

Auch die Bedingungen für die Schule und in der Schule verändern sich nicht Knall auf Fall. Aber sie tun es. Unaufhaltsam. Und vor dem Hintergrund eines fortschreitenden gesellschaftlichen Wandels sind logischerweise auch die Schüler nicht mehr die gleichen wie vor zehn oder zwanzig Jahren. Sie verhalten sich anders, herausfordernder in vielerlei Hinsicht. Heterogenität, fehlende Motivation, Disziplinlosigkeiten, Unaufmerksamkeit sind Belastungsfaktoren, die das Wasser im schulischen Kochtopf mehr und mehr zum Sieden bringen.

Auch das geht an die Substanz: Ein Fünftel der Schweizer Lehrer fühlt sich permanent überfordert, ein Drittel ist stark Burn-out-gefährdet. Die Kosten für die berufsbedingten Krankheitsausfälle belaufen sich auf 37 Millionen Franken. Pro Jahr. Vorsichtig berechnet.

Es ist augenfällig, der Aufenthalt im Kochtopf hinterlässt seine Spuren. Bei allen Beteiligten. Und es drängt sich auf, mit anderen Konzepten auf die Veränderungen zu reagieren. Dazu gehören personalisierte Lernkonzepte: der zunehmenden Unterschiedlichkeit mit Arrangements zu begegnen, die dem Lernen eine individuelle Relevanz verleihen, die entsprechend Sinn machen. Denn niemand beschäftigt sich gerne mit sinnlosem Zeugs – auch in der Schule nicht. Das bezieht sich keineswegs nur auf Themen und Inhalte, viel wichtiger ist die Art und Weise, wie man sich mit den Dingen auseinandersetzt.

Auf dieses Wie und damit auf das Verhalten der Schüler und auf ihre Entwicklung pädagogisch Einfluss zu nehmen, das ist Aufgabe der Lehrer. Man sagt dem „Erziehung“. Das heisst: Die Schule hat zuerst und vor allem einen Erziehungsauftrag. Auch im Hinblick auf schulische Inhalte. Denn jede noch so spektakuläre mathematisch-didaktische Turnübung verfehlt ihre Wirkung, wenn es beim Lernenden zum Beispiel an Frustrationstoleranz mangelt, an exekutiven Funktionen, wenn er schwach ist im Anfangen aber dafür stark im Aufhören.

Die Rückbesinnung auf den Erziehungsauftrag heisst, sich schleunigst zu verabschieden von der abstrusen Vorstellung, dass sich Bildung und Erziehung trennen liessen. Und es heisst: Die Erziehung, also die pädagogische Einflussnahme auf das Verhalten und die Entwicklung des einzelnen Lernenden, ganz oben auf die Traktandenliste zu setzen. Nicht als separate Aufgabe, nicht als lästige Pflicht, die man gerne outsourct – an die Eltern natürlich, an die schulische Sozialarbeit oder an den Hausmeister.

Denn wer will, dass Schüler „gut“ werden, muss sich dafür verantwortlich fühlen, dass sie sich zielführend verhalten. Dazu braucht es kein neues Schulfach. Und keine Projektwoche. Was es braucht ist die Bereitschaft, und die Fähigkeit, die Einflussnahme auf das individuelle und kollektive Verhalten der Lernenden ins Zentrum zu stellen. Eben: zu erziehen – beim Lernen, durchs Lernen, fürs Lernen. Das heisst konkret: Es reicht nicht, darauf hinzuweisen, was Schüler tun sollten. Es heisst: sich dafür verantwortlich zu fühlen, dass sie es tun. Und dass sie es gerne tun.

Verantwortung übernehmen heisst beispielsweise: Für eine störungsfreie Arbeitsatmosphäre sorgen. Sicherstellen, dass die Schüler überhaupt zum Arbeiten kommen. Nicht warten wie der Frosch im Topf, wenn Normen verletzt werden. Denn Normverletzungen führen zu immer mehr Normverletzungen.

Und in dieser Beziehung bietet die Erwachsenenwelt den Kindern und Jugendlichen nicht nur Nachahmenswertes. Inkonsequenz wohin der Blick fällt. Politiker versprechen das Blaue vom Himmel und plustern sich medial auf – bis es ernst wird oder die Wahlen vorbei sind. Blah, blah, blah.

Eltern zeichnen sich häufig auch nicht gerade durch besondere Standfestigkeit aus. Aus Überforderung, Resignation oder schierer Bequemlichkeit überlassen sie das Feld quasi kampflos der geballten Macht der (medialen) Marktschreiern und den gern gehörten Beschwichtigungen des inneren Schweinehundes.

Diesen reichen Erfahrungsschatz, dass Worte mitunter sehr wenig mit Taten zu tun haben, nehmen Kinder und Jugendliche mit in die Schule. Diese Lektion haben sie gelernt. Wesentlich nachhaltiger als binomische Formeln oder Kommaregeln beim Infinitiv mit „zu“.

Und nun stellt sich natürlich die Frage: Unterscheidet sich die Schule vom Rest der Lebenswelt, unterscheiden sich die Lehrer von anderen Erwachsenen? Was tun sie, wenn man zu spät kommt, nur ein bisschen und nur manchmal? Was tun sie, wenn man seine Aufträge schludrig bearbeitet hat oder nicht fertig ist damit, wenn man eigentlich noch gar nicht richtig angefangen hat, wenn man halt nicht motiviert war, wenn man erklärt, nicht gewusst zu haben, was genau der Auftrag gewesen sei? Was unternehmen – oder unterlassen – sie? Wie verhalten sie sich, wenn man so tut, als wäre man interessiert aber eigentlich alle wissen, dass dem nicht so ist? Was tun sie, wenn man ein Papier treffsicher neben den Abfalleimer schmeisst? Übernehmen sie – auch mit einem gewissen Mut zu konstruktiver Unpopularität – Erziehungsverantwortung? Setzen sie Zeichen? Und Grenzen? Erkennt man sie an dem, was sie tun und nicht an dem, was sie sagen? Denn von denen gibt es schon genug.




In der Schule steigt die Betriebstemperatur

Der Winter ist vorbei, es wird wärmer. Und steigende Temperaturen verheissen auch dem Bildungswesen eine zunehmend heisse Phase. Denn: Landauf landab werden mithilfe von Prüfungen Prüfungen vorbereitet, um dann – bei steigender Betriebstemperatur – in Szene gesetzt werden zu können. Die Ergebnisse in Form von Noten werden schliesslich in Berechtigungen umgewandelt. Damit scheint die Kernaufgabe der Bildung erfüllt zu sein: Berechtigungen zu verteilen – für die nächsthöhere Klasse, für die nächsthöheren (akademischen) Weihen, für diesen oder jenen Titel.

Nach der Phase dieser bedeutungsschwanger inszenierten Prüfungsrituale fällt das System in sich zusammen. Der mühselig auswendig gelernte „Stoff“ löst sich in Nichts auf. Und die Zeit der Fluchtvorbereitung bricht an. Nur noch soundsoviele Tage oder Stunden, dann beginnt endlich das, worauf das ganze System schon lange schielt: die Ferien.

Dabei haben Schulferien ursprünglich nichts mit Pädagogik und schon gar nichts mit gestressten Schülern oder Lehrern zu tun. Für die Ferien, wie sie heute noch den Jahresrhythmus des Bildungswesens prägen, gibt es genau zwei Gründe. Zweitens: kirchliche Feiertage – also Ostern und Weihnachten. Und erstens: Erntezeiten- Sommer und Herbst. Das heisst: Die Schulferien dienten gleichsam höheren Zielen – zum Beispiel der Ernte, also der „richtigen“ Arbeit.

Ein wichtiges Strukturelement der schulischen Bildung führt gleichsam zurück in eine völlig andere Zeit, zurück zu völlig anderen Bedingungen und Voraussetzungen. Das gilt genauso für die übrigen strukturprägenden Elemente: Fächer, Jahrgangsklassen, Lehrmittel, Schulstoff, Lektionen, Prüfungen und Zensuren – alles von vorgestern. Das findet sich schon im Antrag zur Verbesserung der Landschulen des Kantons Zürich – aus dem Jahre 1829!

Mit anderen Worten: Was die Schule strukturell heute noch prägt und im Innersten zusammenhält, stammt aus einer Zeit, in der die erste Postkutsche über den Gotthard gefahren ist, die Kinderarbeit verboten wurde und die letzten öffentlichen Hinrichtungen stattfanden. Doch seitdem ist einiges anders geworden. Radikal anders. Entsprechend radikal verändern sich die Ansprüche seitens des Alltages und der Arbeitswelt. Und mit ihnen verändern sich die Menschen als Produkt ihrer Erfahrungen. Eine der Folgen: Heterogenität in all ihren Facetten. Und diese Diversität nimmt zu, wird sichtbarer, virulenter. Kommt hinzu: Heterogenität ist nur einer der gesellschaftlichen Megatrends, die die Schule vor neue Herausforderungen stellen. Kurz: Das Bildungswesen sieht sich konfrontiert mit „anderen“ Ansprüche und „anderen“ Menschen. Das führt im schulischen Alltag teilweise zu erheblichen Schwierigkeiten. Schon das allein wäre eigentlich Anlass genug, sich ein paar grundlegende Fragen zu stellen. Doch man reagiert mit Fächern und Studienrichtungen. Mit Bürokratie und Testbatterien. In sich ablösenden Wellen von operativer Reformationshektik wird jeweils ein bisschen an der Benutzeroberfläche herumgeschönt. Man diskutiert über die Farbe der Postkutsche während unter der Oberfläche der Schnellzug durch den Tunnel braust. Dabei ist eigentlich klar: Das, worum es wirklich geht, findet unter der Oberfläche statt.

 

Das Wie bestimmt das Was

„Was hast du heute?“ „Zuerst Mathe, dann Deutsch.“ Fächer „haben“ – dieses Verständnis prägt die Schule. Lehrer „geben“ Fächer – zum Beispiel eben Deutsch. Und Schüler „haben“ Fächer, zum Beispiel eben Mathematik. Und wenn es nicht funktioniert, dann sind die Schuldigen schnell identifiziert: die Schüler. Sie lernen zu wenig. Sie sind zu dumm, zu faul, zu unkonzentriert. Sie habe die falschen Eltern. Die Liste liesse sich beliebig erweitern. Doch das ist ebenso simpel wie falsch. Denn eigentlich geht es nicht um Mathematik. Es geht ums Lernen – zum Beispiel von Dingen, die mit Mathematik zu tun haben. Wer lernt, verhält sich irgendwie. Und das Ergebnis eines Verhaltens zeigt sich im Resultat – ob es sich um den Dreisatz handelt, den Abwasch in der Küche, ein Fussballspiel oder die Organisation eines Meetings. Die Art und Weise, wie etwas getan wird, bestimmt, was dabei herauskommt. Kurz: Das Wie determiniert das Was.

Das führt aufs Feld von Verhaltensmustern, Gewohnheiten, Charaktereigenschaften. Wer sich beispielsweise über ein hohes Mass an Frustrationstoleranz ausweist, ist schulisch und beruflich signifikant erfolgreicher. Wer über ausgeprägte exekutive Funktionen verfügt, ist gerüstet für einen gelingenden Umgang mit den Aufgaben, die das Leben (oder die Schule) stellen. Und wer den inneren Schweinehund an der kurzen Leine führt, führt in der Regel auch ein besseres Leben. Das ist nicht nur empirisch schlüssig belegt, das erkennt auch, wer einigermassen offenen Sinnes durch die Welt geht.

Deshalb: Es geht ums Lernen. Das nimmt die Bildungsinstitutionen und die Lehrer in die Pflicht, macht sie verantwortlich für den Erfolg der Lernenden. Die Frage ist nicht: Was müssen die Schüler tun, damit sie erfolgreich sind? Die Frage heisst: Was muss ich tun, damit die Schüler das tun, was sie erfolgreich macht? Und nur so nebenbei: „Erfolg“ ist viel mehr als Dreisatz oder Kommaregeln oder Passé Simple oder die Analyse von Kationen in Salzen. Erfolg ist eine Haltung. Und ein Verhalten. Ergo: Lernerfolg ist gebunden an das Lernverhalten. Wenn die Schule also will, dass die Lernenden ihr Tun als erfolgreich und sinnstiftend erleben, dann muss sie sich um eben diese Lernenden kümmern. Um ihr Lernen. Um ihr Verhalten. Dann übernimmt sie die Verantwortung dafür, dass der einzelne Schüler sein Lernen erfolgreich gestaltet. Das setzt ein aktivierendes Interesse an den betroffenen Menschen voraus. Mit gutem Grund: Die Lehrer-Schüler-Beziehung hat zentralen Einfluss auf den individuellen Lernerfolg.

Und: Jeder Mensch lernt anders. Weil er anders ist. Das verlangt, die Schule aus der Perspektive des Lernens zu gestalten, das Lernen zu organisieren. Nicht das Lehren der Lehrer. Klingt trivial. Ist es aber nicht. Denn das ruft nach personalisierten Lernkonzepten, nach Arrangements, die schulisches Lernen zu einer individuell relevanten Angelegenheit machen. Das setzt Widerstandsressourcen frei. Die sind auch nötig. Denn schulisches Lernen ist mitunter recht anstrengend. Es gibt keine Abkürzung. Und man kann es allen Heilsversprechungen zum Trotz nicht outsourcen – weder an die Technik noch an andere Menschen. Es ist gebunden an die eigene Aktivität. Allein das Wort „Lernen“ macht das deutlich. Es geht etymologisch auf die gleichen Wurzeln zurück wie „Leistung“. Und „Leistung“ ist nicht nur positiv konnotiert. Dennoch führt kein Weg daran vorbei: Wer lernen will (oder soll), muss bereit sein, etwas zu leisten. Und wer erfolgreich lernen will, muss bereit sein, mehr zu leisten. Das tut auf Dauer nur, wer Freude hat an der eigenen Leistung.

Wer sich und sein Leben liebt, liebt die Anstrengung. Denn das Leben findet ausserhalb der Komfortzone statt. Daraus ergibt sich eine wichtige Aufgabe für die schulische Bildung: Die Lernenden herauszufordern, damit sie fit werden für ihr Leben. Wie die Welt in einigen Jahren aussehen wird – keine Ahnung. Und welches Fachwissen dannzumal gefordert sein wird – keine Ahnung. Was aber klar ist: Sich selber nehmen die Schüler mit in ihre Zukunft. Sie sind gleichsam ihre eigene Zukunft. Und wenn sie dafür fit sind, in einem umfassenden, multiplen Sinne fit, dann können sie ihrer Zukunft zuversichtlich entgegensehen. Darum geht es.

 




Schüler haben ein Recht auf souveräne Erwachsene

Das Klagelied über „schwierige Schüler“ hallt landauf landab durch die Schulhausgänge. Und einige verhalten sich tatsächlich so – unkonzentriert, uninteressiert, unangepasst. Sie provozieren das System und seine Repräsentanten. Das generiert Schlagzeilen. «Das Leiden der Lehrer» (Sonntagszeitung 28.03.17), «Berner Lehrer schlagen Alarm» (20 Minuten 17.03.17), «Am Ende. Eine Primarlehrerin steigt aus» (Das Magazin 15.03.17), „Lehrer in Not“ (Weltwoche 30.03.17). Lehrer erfreuen sich medialer Beliebtheit, fast wie weiland das Waldsterben oder die Vogelgrippe. Die Erregungsbewirtschaftung endet zwar meist dort, wo sie immer endet: Bei der Forderung, dass irgendjemand endlich irgendetwas tun sollte – der Staat, die Eltern, die Gesellschaft.

Und doch: Ab und an legen die Diskussionen den Blick frei auf Entwicklungen, denen mit der üblichen Pflästerlipolitik nicht beizukommen ist, Entwicklungen, die das Selbstverständnis der Schule und ihres pädagogischen Personals gründlich infrage stellen. Und die Idee, diese Probleme mit ihren Ursachen lösen zu wollen, führt auf direktem Weg in den pädagogischen Konkurs. Doch wie der Kapitän, der mit seinem Vortrag über Navigation fortfährt, dieweil das Schiff sinkt, hält sich das Bildungssystem selbstimmunisierend die Zumutungen der Realität klagend vom Leibe.

Und wenn sich die Schüler vor dem Hintergrund ihrer real existierende Welt nicht nach den selbstgefälligen Vorstellungen der Schule richten, dann sind nicht etwa deren Konzepte falsch, sondern die Schüler. Kein Wunder, dass die Schüler in diesem Kontext ihre eigenen Ausweich- und Widerstandesstrategien perfektionieren. „So-tun-als-ob“ ist eine davon, sozialverträglich und entsprechend flächendeckend verbreitet. Doch: Warum sozialverträglich, wenn es bequemer und erst noch unterhaltender ist, den Impulsen auf vielfältige Weise freien Lauf zu lassen.

Aus professioneller Perspektive betrachtet ist das kein Problem. Es ist eine Aufgabe – eine Kernaufgabe für Schule und Lehrer. Und die Aufgabe heisst: pädagogisch Einfluss nehmen auf das Verhalten der Schüler. Erziehung sagt man dem. Das braucht Menschen, die das können, die das wollen, die es eben als ihre Aufgabe betrachten, die Gegenwart er Schüler zukunftsweisend zu beeinflussen. Im Klartext: Lehrer haben eine Führungs- und Erziehungsaufgabe.

Wer das (können) will, muss die sichere Deckung von Dreisätzen, Gerundien, Winkelhalbierenden und unregelmässigen Verben verlassen. Er muss sich in offenem Gelände mit den Situationen und Zielen der einzelnen Schüler auseinandersetzen. Diese Aufgabe hat wenig mit fachlicher und sehr viel mit pädagogischer Souveränität zu tun. Pädagogisch souveräne Persönlichkeiten sind fähig und willens, sich und die Schüler herauszufordern. Sie tragen nicht zu den Larmoyanzwerten im Lehrerzimmer bei, sie zeigen ein aktivierendes Interesse am einzelnen Schüler. Sie sprechen nicht über Menschen, sondern mit ihnen. Sie fühlen sich zuständig, übernehmen Verantwortung, sind präsent, eröffnen Spielräume und setzen Grenzen. Sie zeichnen sich aus durch Mut zu konstruktiver Unpopularität, der sich verbindet mit der Arbeit an einer vertrauensvollen professionellen Beziehung. Sie stehen über der Sache, auch wenn sie sitzen. Und sie lachen über sich selbst, bevor es andere tun. Und warum? Weil sie eben das Schülerverhalten nicht als Problem betrachten, sondern als Aufgabe. Und weil Kinder ein Recht haben auf souveräne Erwachsene – auch und gerade in der Schule.




Es gibt nur gute Lehrer

Im Gegensatz zu anderen Berufen gibt es bei den Lehrern nur „gute“. Das zeigt sich jeweils zu Beginn eines neuen Schuljahres, wenn frohgemut verkündet wird: Alle Lehrerstellen konnten besetzt werden. Dass, wer eine Stelle antritt, auch das Rüstzeug für eine erfolgreiche Alltagsbewältigung mitbringt, das wird offensichtlich vorausgesetzt. Die Logik dahinter: Wer eine Lehrerausbildung hinter sich gebracht hat, ist zwangsläufig ein guter Lehrer.
Dennoch lässt sich die Lehrerschaft in zwei unterschiedliche Gruppen aufteilen – nicht in „gute“ und „schlechte“ natürlich, sondern in solche, die gute Arbeit leisten und solche, die das täten, wenn man sie liesse. Die zweite Gruppe scheint gemessen an der Medienpräsenz die weitaus grössere Gruppe zu sein.
Die Lehrer der ersten Gruppe, die machen einfach einen guten Job. Sie sind präsent, haben sich und die Kinder im Griff, haben Freude an dem, was sie tun, interessieren sich in aktivierender Weise für den Einzelnen, sind umgänglich und moderat im Ton und klar in der Sache, stehen mit beiden Füssen auf dem Schulhausboden und nutzen Synergien in der Zusammenarbeit mit Kollegen und Dritten.
Die Lehrer der zweiten Gruppe sind natürlich auch gut. Aber die Bedingungen und die anderen (dazu gehören auch die Schüler) hindern sie daran, ihre Talente zur Entfaltung zu bringen. Sie haben sich für einen Beruf entschieden, der irgendwie nicht mit ihren Bedürfnissen und Befindlichkeiten in Einklang steht. Zu dieser mangelnden Passung gehört unter anderem: Kinder und Jugendliche können oder wollen sich partout nicht an die didaktischen Verfahrensplanungen halten. Sie passen nicht in die schulischen Kalibrierungsschablonen.
Das ist allerdings weder neu noch überraschend. Wer schon einmal mit lebendigen Kindern zu tun gehabt hat, weiss: das ist eigentlich normal.
Wer zu einem niedrigen Preis eine Wohnung in der Anflugschneise des Flughafens mietet, macht das im Bewusstsein, fortan in der Anflugschneise des Flughafens zu wohnen. Er hat das so gewählt. Also gibt es keinen Grund sich über den Fluglärm zu beschweren.
Und wer den Lehrerberuf wählt, der weiss, dass sich damit jede Menge privater Vorteile verbinden (z.B. Arbeitszeiten). Er sollte aber auch wissen, dass er es mit Kindern, Jugendlichen und Eltern zu tun haben wird. Die so sind, wie sie sind. Andere gibt es nicht. Das kann man gut finden oder schlecht. Aber man hat sich für diesen Beruf entschieden. Mit allem, was dazu gehört.
Deshalb haben nun die guten Lehrer im Kanton Bern, deren Qualitäten wegen der störenden Kinder nicht zum Erblühen kommen können, eine Forderung aufgestellt: Pro Schulklasse soll eine zusätzliche halbe Stelle zur Verfügung gestellt werden. Mit diesem Teamteaching, so die Theorie, stünde ein Mittel zur Verfügung gegen aufmüpfige, unaufmerksame, desinteressierte Schüler und gegen die Alltagsphänomene all dessen, was man theoretisch begrüsst hat (Inklusion beispielsweise).
Nicht nur in der Schule (aber dort besonders) gilt freilich: Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis ist in der Praxis grösser als in der Theorie. Denn Intensität und Kontinuität in der Betreuung der Schüler hat nur am Rande etwas mit Stellenprozenten zu tun.
Kleine Rechnung: Ein Lehrer mit einem Pensum von 28 Lektionen ist im Verlaufe einer Woche 21 Stunden in der Schule – bei einem Vollpensum während einer normalen Schulwoche. Das ist beides nicht selbstverständlich. Im Gegenteil: Der Lehrerberuf ist ein ausgesprochener Teilzeitberuf. Die einzigen personellen Konstanten in der Schule sind Hauswart und Schüler. Die Lehrer dagegen kommen und gehen. Bei einem Zweidrittelspensum beläuft sich die unterrichtliche Präsenzzeit einer Lehrperson auf wöchentlich 12 Stunden. Im Durchschnitt (bei etwa 40 Schulwochen) ergibt das eine tägliche Anwesenheitszeit von 2,4 Stunden (zweikommavier). Soviel zum Thema Kontinuität.
Man kann sich die ganze Rechnerei auch sparen. Es braucht einfach mehr Lehrer die a.) der Gruppe 1 angehören und b.) ihren Beruf als Vollzeitaufgabe mit entsprechender Präsenz verstehen.




Life is no sugarlicking

Schulisches Lernen zielt darauf ab, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu fördern. Das wird kaum bestritten. Nun, Entwicklung braucht Herausforderung. Darauf kann man sich auch noch einigen – theoretisch. Praktisch wird’s anstrengend. Das ist ein Wesenskern von Herausforderungen. Klingt nicht gerade prickelnd. Und es widerspricht auch der Forderung, Lernen müsse Spass machen. Nein, tut es nicht. Die Frage ist nur: Was versteht man unter „Spass machen“? Geht es darum, dass der Lehrer als Unterhalter dafür sorgt, dass die Schüler es lustig haben? Geht es darum, dass andere Schüler für das Amusement sorgen? Oder geht es gar darum, dass man sich an seinen eigenen Leistungen freut? Alles kann Spass machen – aber nicht jeder Spass wirkt sich produktiv auf das Lernen aus. Im Gegenteil! Deshalb: Soll der Spass Spass machen – oder das Lernen? Oder das Können?

Natürlich darf schulisches Lernen kein verkrampftes Trauerspiel sein. Und natürlich darf und soll es anregend, kurzweilig und zuweilen auch lustig zu und hergehen. Durchaus. Der eigentliche Spass, der produktive quasi, entsteht jedoch durch das beglückende Gefühl, etwas zu können, etwas verstanden, etwas begriffen zu haben. Es ist dieses Gefühl, das Archimedes nackt durch Syrakus rennen und „Heureka“ schreien liess, nachdem er in der Badewanne das nach ihm benannte Prinzip entdeckt hatte.

Allerdings: Archimedes hatte sich schon zuvor intensiv mit dem Verhältnis zwischen dem statischen Auftrieb eines Körpers in einem Medium und der Gewichtskraft des vom Körper verdrängten Mediums beschäftigt. Klingt herausfordernd. Und zeigt: Warmes Wasser reicht nicht. Spass auch nicht. Life is no sugarlicking und Lernen keine Dauer-Happy-Hour. Um Dinge zu entdecken – zum Beispiel archimedische oder andere Prinzipien – muss man sich mit ihnen vertieft auseinandersetzen. Riecht verdächtig nach Arbeit. Und dahinter – hinter der Arbeit eben – versteckt sich der Spass zuweilen. Er kann sich gut verstecken. Und lange. Man kann natürlich darauf warten, bis eine Arbeit ansteht, die man gerne tut. Manche – nicht nur Schüler – warten ewig darauf. Oder man tut einfach das gerne, was tut – zum Beispiel während man darauf wartet, bis etwas kommt, das man gerne tut. Und: Meistens macht es einfach auch Spass, Aufgaben gemeistert zu haben, die keinen Spass gemacht haben.




Normale werden massiv diskriminiert

Einer Minderheit anzugehören, das lohnt sich in unserer Gesellschaft. Minderheiten werden diskriminiert. Und diskriminiert werden, das hat was für sich. Denn flugs nehmen sich Juristen und Politiker – den Eigennutz geschickt hinter Barmherzigkeit versteckend – den Erniedrigten an. Sie setzen sich medial dafür in Szene, dass Toilettentüren politisch korrekt angeschrieben und dass Gremien nicht nach Kompetenz, sondern nach Quoten zusammensetzt werden. Sie kümmern sich rührend darum, dass uralte Glockenspiele (Melodie: „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“) nicht die Gefühle empfindsamer Veganer verletzen¹. Und sie sorgen sich liebevoll darum, dass zerstörungswütige Chaoten besser behandelt werden als Parksünder.

Allerdings: Es gibt eine Ausnahme. Die am stärksten diskriminierte Minderheit – das sind nämlich die Normalen. Das sind jene, die nicht nur jeden Tag pünktlich zur Arbeit gehen, sondern das auch noch gerne tun, die ihre Rechnungen bezahlen, die den Abfall in die dafür vorgesehenen Kübel werfen und die „bitte oder „danke“ sagen. Traurig, aber ausgerechnet diese aussterbende Spezies verfügt über keine Lobby.

Eine Minderheit zeichnet sich gemäss der UNO-Deklaration zu den Minderheitenrechten von 1992 aus durch eine numerische Unterlegenheit im Vergleich zur Gesamtbevölkerung, eine nicht-dominante Stellung im Staat und durch ethnische, religiöse oder sprachliche Unterschiede gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Das alles trifft für die Normalen in ganz besonderem Masse zu. Kein Wunder, will niemand mehr normal sein. Und da sie eben keine Lobby haben, um sich in Szene zu setzen, unternehmen sie alles, um ihre Zugehörigkeit zu dieser Minderheit vertuschen. Gerade auch den Kindern will man die Schmach ersparen, normal zu sein. Die Pathologisierung des Alltags ist Wasser auf die Mühlen dieser Bemühungen. Denn Diagnosen aller Art erweisen sich als äusserst dienlich. Ein Hochbegabten-Burnout macht sich besonders gut. Aber auch mit einer Harfenstrauchallergie kann man den Nachwuchs wirkungsvoll vom diskriminierenden Normalsein abgrenzen. Das erleichtert das Dasein aller Beteiligten. Denn von Normalen wird ja gemeinhin erwartet, dass sie Leistung erbringen und Verantwortung übernehmen. Mit einer Diagnose ist man quasi offiziell davon entbunden.

Dieser Tage erscheint das „Diagnostische und statistische Handbuch für psychische Erkrankungen“ (DSM: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders). Es schreibt die Grenzen zwischen Normalität und Störungen fest und bestimmt so über Fördergelder, Rentenansprüche, Strafmasse, Therapien und Medikamente. Das heisst: Das Handbuch legt die Grenze fest zwischen „gesund“ und „krank“, zwischen „gestört“ und „normal“. Und die Grenzen sind deutlich nach unten verschoben worden. Was früher zur Normalität gehörte, wird heute durch eine Diagnose pathologisch salonfähig gemacht.

Das führte zu einer heftigen Debatte. Über zehntausend Mediziner wehrten mit der Begründung, durch die permissiven Definitionen und neuen Krankheitsbildern werde ein Heer von eingebildeten Kranken ausgehoben. An der Spitze der Kampagne, die in letzter Minute noch einige Änderungen abwenden konnte, stand der amerikanische Psychiater Allen Frances. Er sieht die Schwellen drastisch sinken. Vergesslichkeit und Zerstreutheit würden zur neurokognitiven Störung umgedeutet, Stimmungsschwankungen zur bipolaren Störung, Zorn zur Affektregulationsstörung. Aus allgemeinen Sorgen würden „Angst und depressive Störung, gemischt“, für reizbare und aggressive Kinder sei die „Disruptive Mood Dysregulation Disorder“ erfunden worden, für Schüchterne stehe die soziale Phobie bereit. Kurz: Ein unproblematisches Seelenleben kann bald nur noch der Haushaltsroboter führen. Wenigstens einer, der noch normal ist.


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In Limburg (Hessen) wird das Glockenspiel des Rathauses vorerst nicht mehr das alte Volkslied «Fuchs du hast die Gans gestohlen» erklingen lassen. Grund: Eine Veganerin fühlte sich durch die Melodie in ihren Gefühlen verletzt.




Die Generation Kartoffelsack wird an Elternhaltestellen ausgeladen

Viele Menschen verbringen ihre Zeit körperlich dermassen inaktiv, dass kaum mehr der Bewegungsmelder reagiert. Die Suche nach dem leichten und bequemen Leben ist ein Merkmal der gesellschaftlichen „Entwicklung“. Die entsprechenden Angebote haben denn auch Hochkonjunktur. Es bilden sich Schlangen vor der Rolltreppe, dieweil die Treppe leer ist.

rolltreppe2Und selbst für den Weg ins nächste Stockwerk wartet man lieber auf den Lift. Man könnte meinen, die Gesellschaft spiele Mikado: Wer sich bewegt, der hat verloren.

Die Jugendlichen stehen in dieser Beziehung den Erwachsenen in nichts nach. Im Gegenteil: Eigentlich ist es gut, dass die Kinder digital dermassen aufgerüstet sind. Denn: Wenn sie das Handy aus der Tasche nehmen, vollbringen sie immerhin eine Bewegung.Das Schulsystem kann sich ja normalerweise nicht rühmen, körperliche Aktivitäten zu fördern. Die Kurzaufenthalte in der Turnhalle bringen die Schüler nicht nachhaltig auf die Beine. Eine Folge: Nur etwa zehn Prozent der Jugendlichen erreichen den Bewegungsumsatz, den sie eigentlich für ein gesundes Leben bräuchten. Oder anders gesagt: Neun von zehn Jugendlichen bewegen sich deutlich zu wenig. Das hat vor allem damit zu tun, dass im Alltag die Bequemlichkeit den Takt angibt – und dann auch die Konfektionsgrössen bestimmt. Sogar der Schulweg lässt sich heutzutage quasi bewegungsneutral bewältigen. Deshalb haben neuerdings mehrere Schulen in Nordrhein-Westfalen sogenannte Elternhaltestellen eingerichtet. Noch einmal: Elternhaltestellen! Die treubesorgten Mütter und Väter können ihre Sprösslinge zwar nicht direkt ins Klassenzimmer karren. Aber immerhin: Sie können sie direkt vor dem Eingang ausladen.

Dabei: Die Daten zum gesellschaftlichen Bewegungsverhalten sind erschreckend. Sitzen und Liegen dominieren den Alltag. Das zeitigt jede Menge gesundheitlicher Folgen und verursacht gigantische volkswirtschaftliche Kosten. Tendenz steigend.

Zwar boomen die Fitnesscenter und die Sportvereine finden durchaus ein jugendliches Publikum. Aber es erweist sich als Irrweg, sich durchs Leben zu fläzen, um ab und an das sportliche Outfit auszulüften. Sogar wer wöchentlich zwei, drei Mal ein Training besucht, schafft es nicht, die gesellschaftsübliche Bewegungsarmut zu kompensieren.

Entscheidend ist vielmehr das, was James Levine NEAT nennt – non-exercise activity thermogenesis. Oder ein bisschen einfacher: Die alltäglichen Situationen in Bewegungssituationen umwandeln: weniger liegen – mehr sitzen, weniger sitzen – mehr stehen, weniger stehen – mehr gehen. Das gilt auch und gerade für die Schule. Zumal die Zusammenhänge zwischen geistiger und körperlicher Aktivität spätestens seit Juvenal (und damit seit zweitausend Jahren) kein Geheimnis mehr sind.

Schulische Konzepte, die solche Gedanken aufnehmen, lassen sich in der Regel von ganzheitlicheren Bildungszielen leiten. Sie wollen, dass die Heranwachsenden in einem umfassenden Sinne fit sind fürs Leben. Das setzt das Bewusstsein voraus, dass Lernen nicht die Reaktion ist auf Lehren, dass nachhaltiges schulisches Lernen gebunden ist an die Aktivitäten des einzelnen Lernenden. Denn: Lernen ist ein Verb. Und ein Handwerk. Das gedeiht besser in offenen Lernformen mit vielfältigen Bewegungen, die sich aus dem Arbeit heraus ergeben. Dazu gehören handlungsorientierte Arrangements, Verarbeitungstiefe, Peer-tutoring und all das, von dem Johann Wolfgang Goethe sagt, es sei das Synonym für Erfolg: TUN.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Wer tätig ist, bewegt sich, bewegt seinen Geist, bewegt seinen Körper – und nicht nur die Pupillen vor dem Bildschirm.




Edukative Sozialpädagogik – sich trennen vom Trennen

Die Schule beruft sich gerne auf das „Kerngeschäft Unterricht“. Das verlangt zunehmend – zum Teil schon fast als Voraussetzung für einen geordneten Betrieb – nach unterstützenden Zudienerleistungen aller Art. Dazu gehört beispielsweise die schulische Sozialarbeit. Denn zahlreiche Lehrer fühlen sich überfordert. Zu schaffen machen den Pädagogen vor allem Verhaltensweisen ihrer Schüler, die irgendwie mit Erziehung zu tun haben – mangelndes Respektsverhalten, Null-Bock-Mentalität, Aufmerksamkeitsdefizite, fehlender Ehrgeiz und ähnliches mehr. Damit werden die Schüler gleichsam zur Störgrösse im „Kerngeschäft Unterricht“.

Und da kommt eben die Sozialpädagogik ins Spiel. Eine ihrer Hauptaufgaben: sich um herausfordernde Verhaltensweisen kümmern. Als eine Art pädagogische Schulfeuerwehr nimmt sie sich den speziellen Bedürfnissen an – meist in Konflikt- oder anderen schwierigen Situationen mit Eltern und/oder Jugendlichen. Wenn’s brennt eben. Doch: Konflikte (und vor allem ihre Lösung) können nicht delegiert werden. Damit ist nichts gegen die Sozialpädagogik gesagt. Aber gegen die Trennung von Bildung und Erziehung. Denn: „Schule“ ist nicht zu trennen von „Erziehung“. Im Gegenteil – sie ist das „Kerngeschäft“. Erziehung wird nämlich definiert als „pädagogische Einflussnahme auf das Verhalten und die Entwicklung von Heranwachsenden“. Und man kann sich ja nicht Nicht-Verhalten. Das bedeutet: Jede Pädagogik ist im Grunde genommen Erziehung.

Das führt direkt zum Konzept der edukativen Sozialpädagogik – und das in Verbindung mit personalisiertem Lernen. Edukative Sozialpädagogik bedeutet: sich trennen vom Trennen. Das englische „education“ zum Vorbild nehmen, Bildung und Erziehung systematisch miteinander verbinden und verzahnen. Nicht nur sprachlich, auch organisatorisch und personell. Es ist ein Modell, das im Institut Beatenberg seit langem und mit Erfolg praktiziert wird. Ziel ist es, die Jugendlichen bedürfnisgerecht und zielführend zu unterstützen, sie quasi „on the job“ zum Lernen und zum Leben zu erziehen. Damit sie fit werden für ihr Leben.

Und da die Situationen, Möglichkeiten, Wege und Intentionen für alle Jugendlichen anders sind, gibt es als Organisationsform nichts Ungeeigneteres als die geschlossene Jahrgangs-Marschkolonne. Die Entwicklung läuft in Richtung personalisierten Lernens. Mit diesem Begriff verbindet sich die Idee, schulisches Lernen zu einer persönlich relevanten Angelegenheit zu machen. „Trough the eyes of the students“ fordert Bildungsforscher John Hattie. Oder anders gesagt: Es geht darum, das Lernen zu organisieren – nicht das Lehren. Das mag trivial klingen. Aber es hat erhebliche Konsequenzen. Für alle Beteiligten.

 




Was macht man mit Schülern, die nicht wollen?

Wenn es keinen Grund gibt, etwas zu tun, dann ist das einer, es nicht zu tun. Und offensichtlich sehen viele Schüler oft keinen Grund, das zu tun was man von ihnen verlangt. Also tun sie es eben nicht – pünktlich sein zum Beispiel, anständig, kooperativ. Sie verweigern sich, verschlampen ihre Sachen, begegnen den Aufgaben (und jenen, die sie aufgeben) mit aufreizender Gleichgültigkeit.

Dumpfbackige Provokationen, Mobbing, Vandalismus, Gewalt, zelebrierte Faulheit sind allerdings nur die Spitze des Eisbergs, quasi die auf- und augenfälligen Spielarten, die Spielarten, die Schlagzeilen und Sitzungen produzieren. Das hat wohl auch damit zu tun, dass die Hemmschwellen gesunken sind. So meldet beispielsweise der Norddeutsche Rundfunk: «Die Zahl schwerer Gewaltvorfälle an Hamburgs Schulen ist im vergangenen Schuljahr um rund zehn Prozent gestiegen.»

Allerdings: Mit diesem Bild würde man den Schülern unrecht tun. Die Bandbreite der Ausdrucksformen schulischen Nichtwollens ist nämlich beachtlich. Und: Sich verweigern, das geht durchaus auch sozialverträglich und absolut systemkompatibel. So-tun-als-ob heisst eine entsprechende Konvention. Sie ist flächendeckend verbreitet und tritt in unzähligen Variationen auf. Und sie ist wohlgelitten. Denn man lässt sich auf einvernehmliche Weise in Ruhe.

In die gleiche Kategorie gehört die Devise «ja nicht auffallen». Dann läuft die Sache ziemlich stressfrei ab. Da kann man sich ruhig in die letzte Reihe setzen und sich geistig aus dem Kreidestaub machen – aber eben: nicht auffallen.

Einigermassen über die Runden kommt man überdies mit der Zlatan-Ibrahimovic-Methode: ein Spiel lang quasi inexistent sein, aber im entscheidenden Moment den Kopf oder den Fuss am richtigen Ort hinhalten (für Schüler: sich melden oder das Richtige aufs richtige Blatt scheiben). Diese subtile Variante des Nichtwollens lässt sich noch steigern, bis hin zum kreativ-kompetitiven Austesten des Systems – zum Beispiel gute Noten erzielen ohne je auch nur das geringste dafür getan zu haben.

Also: Nichtwollen ist selbstverständlicher und kulturprägender Teil des Schulsystems. Das ist keineswegs neu. Aber der Widerstand tritt wohl heute offener zutage. Ein Grund: Die Differenz zwischen dem, was in der Schule verlangt wird und dem, was die Lebensgestaltung erfolgreich macht, wird immer offensichtlicher. Das hat auch damit zu tun, dass die Bedeutung der Schule zunehmend reduziert wird auf Noten, Abschlüsse, Berechtigungen. Man spricht zwar von Inhalten, meint aber Noten. Und es ist eine alte Weisheit: Was hinten rauskommen soll, das bestimmt, was vorne geschieht. Kein Wunder, dass Schüler nicht wollen.

Nun sind die gleichen Schüler in anderen Lebensbereichen aber durchaus bereit, sich zu engagieren. Als Fans des FC Tupfingen reisen sie in die entfernteste weissrussische Provinz, um sich ein Europaliga-Spiel anzusehen, das sie sich nie und nimmer antun würden, wenn nicht der FC Tupfingen auf dem Rasen stünde. Sie nehmen Strapazen auf sich, investieren Geld und Ferientage – nicht wegen des Fussballs, nein, wegen ihres Vereins. Das Schlüsselwort heisst: Identifikation.

widerstand-identifikation

Es ist das gleiche Schlüsselwort, das für das Verhalten in der Schule handlungsleitend ist. Dazu stellen sich ein paar Fragen: In welchem Ausmass identifizieren sich Schüler mit dem was sie tun? Mit der Art und Weise, wie sie es tun? Mit den Menschen, mit denen zusammen sie es tun? Und mit jenen, die ihnen sagen, was sie tun sollen?

Die Antworten darauf lassen erkennen, wie sich das mit Wollen verhält. Dahinter steckt ein wichtiges Prinzip: je grösser die Identifikation, desto geringer der Widerstand – und umgekehrt. Das heisst: Wenn die Schule will, dass die Schüler wollen, muss sie Identifikation stiften. Denn: Man kann nichts gegen den Widerstand tun, nichts gegen Gleichgültigkeit, nichts gegen Aufschieberitis, nichts gegen Null Bock, nichts gegen So-tun-als-ob. Was man aber tun kann – und tun muss: Identifikation stiften. Und hier beginnt die Pädagogik. Kaum ein Schüler kommt nämlich in die Schule, weil er es kaum erwarten kann, sich mit Winkelhalbierenden zu beschäftigen. Identifikation entwickelt sich unterhalb dieser Sachebene, dort wo es um Verhalten geht und damit um Erfahrungen und Emotionen. Sie entsteht, wenn Menschen sich kompetent erleben, selbstwirksam, sozial eingebunden.

«Wer sich selber nicht mag», hat Friedrich Nietzsche einst zu bedenken gegeben, «ist fortwährend bereit, sich dafür zu rächen.» Identifikation stiften heisst demnach: dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche sich mögen – und zwar in der Schule. Und wann mögen sie sich? Wenn sie stolz sind, auf das, was sie tun. Und auf das, was sie damit erreichen. Und wie kann das gelingen? Was kann die Schule dafür tun? Wie kann sie identifikationsstiftend wirken?

Sie muss sich erstens für den einzelnen Lernenden interessieren. In einer Klasse sitzen dann eben nicht zwanzig Schüler, da sitzt zwanzig Mal ein Schüler, ein Individuum mit Stärken, Schwächen, Zielen. Und jeder dieser einzelnen Schüler muss sich kompetent erleben – beim Lernen, nicht beim Stören. Das heisst: Schule und Lehrpersonen haben sich in aktivierender Weise in den Dienst des Erfolgs des einzelnen Lernenden zu stellen. Misserfolg ist keine Alternative – zumindest keine identifikationsstiftende.

Zweitens: «Erfolg» braucht eine Bezugsnorm. Die wichtigste Bezugsgrösse für Heranwachsende sind die anderen Heranwachsenden. Gute Leistungen entstehen mit höherer Wahrscheinlichkeit in einem sozialen Kontext, in dem gute Leistungen als erstrebenswert betrachtet werden. Wer will schon als Streber gelten, falls er ein bisschen mehr tut als nur als allernötigste? Das stellt die Schule vor die Aufgabe, eine Leistungskultur zu etablieren, ein Klima, in dem es gut ist, gut zu sein. Peer-tutoring, also voneinander und miteinander lernen, ist beispielsweise ein wirkungsvoller, weil synergetischer Ansatz.

Und drittens müssen die Lehrpersonen selber Identifikation stiften. Das verlangt nach einer hohen pädagogischen Souveränität. Wohlverstanden: nicht fachliche Autorität, pädagogische Souveränität! Denn: Wer über pädagogische Souveränität verfügt, geniesst das Vertrauen und die Akzeptanz der Schüler. Souveränität schafft Autorität. Damit sind aber in keiner Weise die alten Unterwerfungsrituale gemeint. Nein, es geht um eine Form von Autorität, die darauf basiert, dass Schüler erkennen: Es ist gut, dass diese Person in meinem Leben ist – auch wenn es gar nicht immer angenehm sein muss, fordernd manchmal, herausfordernd. Denn was nicht herausfordernd ist, kann nicht als Erfolg verbucht werden.




Lehrplan 21 – warum einfach, wenn es kompliziert auch geht?

 

Die Schule soll Kindern und Jugendlichen helfen, sich im Leben zurechtzufinden. Das ist – wenigstens in den politischen Sonntagsreden – unbestritten. Dafür brauchen sie vielfältige Kompetenzen. Das leuchtet eigentlich auch ein. Also: Alles paletti mit dem Lehrplan 21? Der zielt ja in diese Richtung. Von wegen paletti. Ganz und gar nicht. Der neue Lehrplan für die Volksschulen will nicht so recht aus den Startlöchern kommen. Er hat und macht Mühe. Einer der Gründe: Für den schulischen Alltag scheint er nicht formuliert worden zu sein. Die Lust, sich in den Papierstoss hineinzulesen, hält sich in engen Grenzen – gelinde gesagt.

Für wen wohl Sachen wie «…können unterschiedliche Laute und Lautverbindungen heraushören, im Wort verorten (Anlaut, Mittellaute, Endlaut) und mit Erfahrungen aus der Erstsprache vergleichen …» geschrieben worden sein könnten? Klingt nicht gerade nach schulischem Alltag in der Unterstufe. Aber man weiss ja: Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis ist in der Praxis meist grösser als in der Theorie.

Wen wundert’s, dass diejenigen, die den Lehrplan umsetzen sollten, (die Lehrer) mit Unterschriftensammlungen aktiv in den Widerstand gehen oder sich ins pädagogische Reduit zurückziehen. Dass dabei auch abstruse und verklärte Argumente ins Feld geführt – und akzeptiert – werden, macht deutlich, auf welcher diffus-emotionalen Ebene die Scharmützel ausgefochten werden.

Die systemtypische Flucht in eine weichgespülte Beschwichtigungsrhetorik macht die Sache nicht besser. Im Gegenteil! Es ist im Grunde genommen eine Frechheit, über Jahre Unsummen von Geld in die Entwicklung eines Lehrplanes zu buttern, um dann flächendeckend verbale Beruhigungspillen zu verteilen und so zu tun, als ändere sich eigentlich kaum etwas. Natürlich ändert sich etwas. Oder sollte zumindest. Ist ja auch höchste Zeit.

Und im Grunde genommen ist die Sache ja eigentlich auch nicht so kompliziert. Die Schüler sollen etwas lernen. Lernen heisst: etwas wissen und können, das man vorher noch nicht gewusst oder gekonnt hat. Und um einen Jahrmarkt der Beliebigkeit zu vermeiden, kann man das, was zu lernen ist, näher beschreiben. Das ist weder neu noch spektakulär. Gut, wesentlich einfacher und praxistauglicher liessen sich die Dinge schon formulieren. Für die Niederungen des Alltages halt.

Deshalb haben wir den Lehrplan 21 umformuliert – umformuliert in Kompetenzraster. Ein Kompetenzraster vermittelt auf einer A4-Seite einen Überblick über das, was man in einem Fach im Verlaufe der Schulzeit lernen und können könnte. Wie das funktioniert? Ganz einfach: http://www.institut-beatenberg.ch/component/content/article.html?id=136. Die ergänzenden Checklisten geben den Lehrpersonen differenzierte Angaben für die inhaltliche Gestaltung des Unterrichts. Und die dazu passenden Lernaufgaben machen es möglich, dass Lernende ihren individuellen Möglichkeiten und Zielen entsprechend gefordert werden und sich vertieft und interdisziplinär mit den Themen auseinandersetzen. Relevanz, Verarbeitungstiefe, Nachhaltigkeit sind Stichworte dazu.




Für die Made im Speck macht es keinen Sinn, sich anzustrengen

 

Es gibt Begriffe, die widerspiegeln den Zeitgeist. «Rechte» zum Beispiel ist solch ein Wort. «Pflichten» nicht. «Fordern» ist in. «Leisten» out. «Haben»: ja. «Tun»: lieber nicht. Gesellschaftliche Trends zeigen sich in Haltungen und Handlungen. Und die wiederum finden sich in dem, was gesagt und geschrieben wird. Wirklichkeit schafft eben auch Sprache. Nicht nur umgekehrt.

Nach den verheerenden Kriegszeiten in der Mitte des letzten Jahrhunderts standen die Zeichen auf «Aufbau». «Ärmel hochkrempeln» hatte etwas mit Arbeit zu tun – nicht mit Modeschau. Und Fleiss und Arbeit sollten sich bezahlt machen. Das hat offensichtlich funktioniert. Jedenfalls lebt die heutige Gesellschaft nicht schlecht mit der Hinterlassenschaft der Gründergeneration: Man leistet sich Erdbeeren im Winter, kreiert Minderheiten zur Pflege des Gutmenschentums, produziert im Namen politischer Korrektheit immer weniger Sagbares und immer mehr Unsägliches, suhlt sich in den medialen Seichtgebieten, adelt Straftäter zu Aktivisten, erfindet den Lohn fürs Nichtstun, füttert eine Bürokratie, die sich nicht nur ausbreitet wie ein Krebsgeschwür, sondern sich auch so verhält und auf alles zugreift, was noch einigermassen gesund ist.

Eine Kultur drückt sich in ihrer Sprache aus. Bis in die Gegenwart hinein verfallen ganze Länder in eine kollektive Schockstarre bei Begriffen wie «Führer» oder «Führung». Will heissen: Es gibt Begriffe, die sind assoziativ belastet. Entsprechend lassen die heutigen Lebensweisen bestimmte sprachliche Wendungen als geradezu kontaminiert erscheinen. «Arbeit» beispielsweise. Auf einer Internet-Plattform konnten die Menschen darlegen, was Arbeit für sie bedeutet. Plackerei, Stress, Ärger, Aufgabe seiner selbst, unnötig, Selbstausbeutung, Kapitalismus – das waren die häufigsten Nennungen. In dieser Reihenfolge.

Ein anderes Beispiel: «Disziplin» und «Selbstdisziplin». Komplett aus der Mode. Klingt nach Arbeit. Und «Arbeit» – siehe oben. Verständlich deshalb: Wenn Menschen nach Charakterstärken gefragt werden, landet «Selbstdisziplin» abgeschlagen auf dem letzten Platz.[1] Aufschlussreich ist aber: Bei den Schwächen nahm «mangelnde Selbstdisziplin» den Spitzenrang ein. Das heisst: In den Niederungen des Alltages, dort wo es drauf ankommt, merken die Menschen, was fehlt. Selbstdisziplin eben, die Fähigkeit, den inneren Schweinehund an die kurze Leine zu nehmen. Das klingt nicht nur anstrengend – es ist es auch. Aber genau das ist es, was eigentlich Spass macht, das Gefühl der kleinen Siege über sich selbst. Und vor allem auch: Es befreit. Selbstdisziplin hat etwas hochgradig Befreiendes. Sie befreit davon, zur Pillenschachtel, zur Zigarette oder zum zweiten Stück Kuchen greifen zu müssen. Sie befreit davon, sich anlügen zu müssen, weil man das, was man eigentlich tun wollte oder sollte, vor sich hergeschoben hat wie eine Wanderdüne. Sie befreit davon, «ja» zu sagen, wenn man eigentlich «nein» meint.

Allerdings, für diese Art der Befreiung kann man sich nicht auf die Anderen, auf den Staat oder auf wen auch immer berufen. «Selbst» heisst das Schlüsselwort. Auch das ist ein Begriff, der fehlt im aktiven Wortschatz der Verantwortungsflüchtlinge, die in die Willkommenskultur der Komfortzone drängen, um dort ihre Befindlichkeiten zu zelebrieren. Es ist der ideale Brutplatz für die Idee, ein Anrecht zu haben auf einen bedienten Sonnenplatz im Wohlfühlklima der Vollkaskogesellschaft. Gerade im urbanen Chic des «Anything Goes» haftet allem, was nach Selbstdisziplin riecht, der Stallgeruch des Uncoolen an, des Verstaubten, des Ewiggestrigen. «Anstrengung», «Fleiss» und «Leistung» nehmen dementsprechend Spitzenplätze ein auf der Liste der zeitgeistigen Unwörter. Für die Made im Speck macht es schliesslich auch keinen Sinn sich anzustrengen.

Und dennoch – oder gerade deswegen – ist es allerhöchste Zeit, die uncoolen Begriffe wieder aufzunehmen in die pädagogische und erzieherische Alltagssprache. Denn: Der Weg in ein «gutes» Leben führt über eine Stärkung der Selbstdisziplin.

 

 

 

[1] Baumeister, Roy/Tierney, John: Die Macht der Disziplin. Wie wir unseren Willen trainieren können.