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5. Körperliche Fitness: Wer sich körperlich fit fühlt, hat es leichter, dem Denken Beine zu machen

Menschen waren «Bewegungstiere». Deshalb sind sie so gebaut, wie sie es eben sind. Überleben hiess: Bewegung – jagen, arbeiten und schneller rennen als der Säbelzahntiger. Das war einmal. Die Menschen sind zu «Sitztieren» verkommen. Mehr als die Hälfte ihrer Zeit verbringen Erwachsene heutzutage auf dem Hintern. Im Durchschnitt. Der gesellschaftliche Wandel hat die Menschen buchstäblich von den Beinen geholt. Und jetzt sind sie – auch buchstäblich – am Arsch. Denn die sitzende Lebensweise bringt den Körper arg in die Bredouille. Er ist nicht konstruiert für dauerguckende Dauersitzer.

Bewegung ergibt sich nicht mehr aus dem Leben heraus. Bewegung muss man künstlich erzeugen. Man muss sich bewegen, um sich zu bewegen. Oder anders gesagt: Das Leben offeriert die Bequemlichkeit. Um es unbequem haben zu können, muss man sich anstrengen.

Und das in einer Überflussgesellschaft, die dazu animiert, es sich gut gehen zu lassen. Doch: «Es sich gut gehen lassen» ist meist und auf Dauer das Gegenteil von «gut». Denn es verbindet sich in aller Regel mit Konsum und Bequemlichkeit – und einem grosszügigen Negieren der mahnenden inneren Stimmen.

Doch wer sich selbst gegenüber zu viel Nachsicht übt, macht sich das Leben schwer – wiederum im wahrsten Sinne des Wortes. Der Blick in die Gesellschaft macht augenfällig: Die Kleidergrössen nehmen in dem Ausmass zu, wie die körperliche Fitness abnimmt. Die Menschen erlahmen und mit ihnen ihr Stoffwechsel. Entsprechend steigen die Krankheitsrisiken.

Sitzen ist das neue Rauchen. Die fehlende Bewegung gefährdet die Gesundheit. Im Gegensatz zu den Zigarettenpckungen sind die Sitzflächen der Stühle noch nicht mit warnenden Aufklebern versehen worden. Und im Gegensatz zum Rauchen schützt man die Heranwachsenden nicht vor übermässigem Sitzen. Im Gegenteil. Heutige Kinder spielen lieber drin bei den Steckdosen. Und man lässt sie. Oder fördert es sogar. Nicht von ungefähr spricht man von «Shut-up-Toys» – gucken, sitzen, Klappe halten. Das ist bequem. Für alle. Das Doofe daran: Es führt zu Entzugserscheinungen – beim Entzug von Bequemlichkeit.

Physisches Wohlbefinden ist nicht gleichzusetzen mit sportlicher Entbehrung oder schweisstreibender Höchstleistung. Das darf zwar duchaus auch sein. Indes: Die Devise «schonen schadet» bezieht sich nicht auf die Extreme. Viel wichtiger ist Regelmässigkeit. Viele kleine Bewegungen – mindestens eine Stunde pro Tag sagt die WHO – bringen mehr als ein Waldlauf pro Woche. James A. Levine, Professor an der Mayo-Klinik in Arizona, fasst seine Forschungen unter dem Begriff «NEAT» zusammen – Non Exercise Activity Thermogenesis. Und er meint damit all die vielen kleinen und grösseren Bewegungen, die sich aus dem Alltag ergeben – wenn man sie nutzt.

Sich immer wieder erheben, stehen statt sitzen, die Treppe nehmen statt den Lift, das macht Gesundheit zu einer Haltung. Es ist eine Haltung, die sich nicht darauf beschränkt, Bewegungsmöglichkeiten aktiv und selbstverständlich zu nutzen. Es ist eine Haltung, eine Charaktereigenschaft, die sich ebenso zeigt im Ess- und Schlafverhalten, die sich zeigt im Umgang mit digitalen Medien und anderen Suchtmitteln, die sich zeigt in schulischen und anderen Herausforderungen. Kurz: Die sich zeigt im Aufbau guter Gewohnheiten.

Gegen zwei Drittel dessen, was wir täglich tun oder lassen, ist von Gewohnheiten gesteuert. Die gleichen guten Gewohnheiten, die uns veranlassen, den Fernseher auszuschalten, das Handy zur Seite zu legen, die Treppe zu nehmen, veranlassen uns auch, nicht gleich mit der erstbesten Lösung zufrieden zu sein, die Aufgabe von einer anderen Seite anzugehen, wenn es nicht auf Anhieb klappen will.

Schulisches Lernen ist mitunter anstrengend. Dinge verstehen wollen, das braucht einen vifen Geist. Es braucht die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich anzustrengen, beharrlich zu sein, durchzuhalten, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Und das alles in einer entkrampften, entspannten Manier. Das gelingt dann besser, wenn man ein gutes Gefühl hat mit sich. Dabei spielt der Körper eine wichtige Rolle.

Der Erfolg mag Menschen, die sich anstrengen. Solche Menschen treten entsprechend in die Welt, gehen unverkrampfter und zuversichtlicher an Herausforderungen heran. Das ist gut und tut gut – auch in der Schule. Denn wer sich körperlich fit fühlt, dem fällt es auch leichter, dem Denken Beine zu machen.




Die Generation Kartoffelsack wird an Elternhaltestellen ausgeladen

Viele Menschen verbringen ihre Zeit körperlich dermassen inaktiv, dass kaum mehr der Bewegungsmelder reagiert. Die Suche nach dem leichten und bequemen Leben ist ein Merkmal der gesellschaftlichen „Entwicklung“. Die entsprechenden Angebote haben denn auch Hochkonjunktur. Es bilden sich Schlangen vor der Rolltreppe, dieweil die Treppe leer ist.

rolltreppe2Und selbst für den Weg ins nächste Stockwerk wartet man lieber auf den Lift. Man könnte meinen, die Gesellschaft spiele Mikado: Wer sich bewegt, der hat verloren.

Die Jugendlichen stehen in dieser Beziehung den Erwachsenen in nichts nach. Im Gegenteil: Eigentlich ist es gut, dass die Kinder digital dermassen aufgerüstet sind. Denn: Wenn sie das Handy aus der Tasche nehmen, vollbringen sie immerhin eine Bewegung.Das Schulsystem kann sich ja normalerweise nicht rühmen, körperliche Aktivitäten zu fördern. Die Kurzaufenthalte in der Turnhalle bringen die Schüler nicht nachhaltig auf die Beine. Eine Folge: Nur etwa zehn Prozent der Jugendlichen erreichen den Bewegungsumsatz, den sie eigentlich für ein gesundes Leben bräuchten. Oder anders gesagt: Neun von zehn Jugendlichen bewegen sich deutlich zu wenig. Das hat vor allem damit zu tun, dass im Alltag die Bequemlichkeit den Takt angibt – und dann auch die Konfektionsgrössen bestimmt. Sogar der Schulweg lässt sich heutzutage quasi bewegungsneutral bewältigen. Deshalb haben neuerdings mehrere Schulen in Nordrhein-Westfalen sogenannte Elternhaltestellen eingerichtet. Noch einmal: Elternhaltestellen! Die treubesorgten Mütter und Väter können ihre Sprösslinge zwar nicht direkt ins Klassenzimmer karren. Aber immerhin: Sie können sie direkt vor dem Eingang ausladen.

Dabei: Die Daten zum gesellschaftlichen Bewegungsverhalten sind erschreckend. Sitzen und Liegen dominieren den Alltag. Das zeitigt jede Menge gesundheitlicher Folgen und verursacht gigantische volkswirtschaftliche Kosten. Tendenz steigend.

Zwar boomen die Fitnesscenter und die Sportvereine finden durchaus ein jugendliches Publikum. Aber es erweist sich als Irrweg, sich durchs Leben zu fläzen, um ab und an das sportliche Outfit auszulüften. Sogar wer wöchentlich zwei, drei Mal ein Training besucht, schafft es nicht, die gesellschaftsübliche Bewegungsarmut zu kompensieren.

Entscheidend ist vielmehr das, was James Levine NEAT nennt – non-exercise activity thermogenesis. Oder ein bisschen einfacher: Die alltäglichen Situationen in Bewegungssituationen umwandeln: weniger liegen – mehr sitzen, weniger sitzen – mehr stehen, weniger stehen – mehr gehen. Das gilt auch und gerade für die Schule. Zumal die Zusammenhänge zwischen geistiger und körperlicher Aktivität spätestens seit Juvenal (und damit seit zweitausend Jahren) kein Geheimnis mehr sind.

Schulische Konzepte, die solche Gedanken aufnehmen, lassen sich in der Regel von ganzheitlicheren Bildungszielen leiten. Sie wollen, dass die Heranwachsenden in einem umfassenden Sinne fit sind fürs Leben. Das setzt das Bewusstsein voraus, dass Lernen nicht die Reaktion ist auf Lehren, dass nachhaltiges schulisches Lernen gebunden ist an die Aktivitäten des einzelnen Lernenden. Denn: Lernen ist ein Verb. Und ein Handwerk. Das gedeiht besser in offenen Lernformen mit vielfältigen Bewegungen, die sich aus dem Arbeit heraus ergeben. Dazu gehören handlungsorientierte Arrangements, Verarbeitungstiefe, Peer-tutoring und all das, von dem Johann Wolfgang Goethe sagt, es sei das Synonym für Erfolg: TUN.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Wer tätig ist, bewegt sich, bewegt seinen Geist, bewegt seinen Körper – und nicht nur die Pupillen vor dem Bildschirm.




Edukative Sozialpädagogik – sich trennen vom Trennen

Die Schule beruft sich gerne auf das „Kerngeschäft Unterricht“. Das verlangt zunehmend – zum Teil schon fast als Voraussetzung für einen geordneten Betrieb – nach unterstützenden Zudienerleistungen aller Art. Dazu gehört beispielsweise die schulische Sozialarbeit. Denn zahlreiche Lehrer fühlen sich überfordert. Zu schaffen machen den Pädagogen vor allem Verhaltensweisen ihrer Schüler, die irgendwie mit Erziehung zu tun haben – mangelndes Respektsverhalten, Null-Bock-Mentalität, Aufmerksamkeitsdefizite, fehlender Ehrgeiz und ähnliches mehr. Damit werden die Schüler gleichsam zur Störgrösse im „Kerngeschäft Unterricht“.

Und da kommt eben die Sozialpädagogik ins Spiel. Eine ihrer Hauptaufgaben: sich um herausfordernde Verhaltensweisen kümmern. Als eine Art pädagogische Schulfeuerwehr nimmt sie sich den speziellen Bedürfnissen an – meist in Konflikt- oder anderen schwierigen Situationen mit Eltern und/oder Jugendlichen. Wenn’s brennt eben. Doch: Konflikte (und vor allem ihre Lösung) können nicht delegiert werden. Damit ist nichts gegen die Sozialpädagogik gesagt. Aber gegen die Trennung von Bildung und Erziehung. Denn: „Schule“ ist nicht zu trennen von „Erziehung“. Im Gegenteil – sie ist das „Kerngeschäft“. Erziehung wird nämlich definiert als „pädagogische Einflussnahme auf das Verhalten und die Entwicklung von Heranwachsenden“. Und man kann sich ja nicht Nicht-Verhalten. Das bedeutet: Jede Pädagogik ist im Grunde genommen Erziehung.

Das führt direkt zum Konzept der edukativen Sozialpädagogik – und das in Verbindung mit personalisiertem Lernen. Edukative Sozialpädagogik bedeutet: sich trennen vom Trennen. Das englische „education“ zum Vorbild nehmen, Bildung und Erziehung systematisch miteinander verbinden und verzahnen. Nicht nur sprachlich, auch organisatorisch und personell. Es ist ein Modell, das im Institut Beatenberg seit langem und mit Erfolg praktiziert wird. Ziel ist es, die Jugendlichen bedürfnisgerecht und zielführend zu unterstützen, sie quasi „on the job“ zum Lernen und zum Leben zu erziehen. Damit sie fit werden für ihr Leben.

Und da die Situationen, Möglichkeiten, Wege und Intentionen für alle Jugendlichen anders sind, gibt es als Organisationsform nichts Ungeeigneteres als die geschlossene Jahrgangs-Marschkolonne. Die Entwicklung läuft in Richtung personalisierten Lernens. Mit diesem Begriff verbindet sich die Idee, schulisches Lernen zu einer persönlich relevanten Angelegenheit zu machen. „Trough the eyes of the students“ fordert Bildungsforscher John Hattie. Oder anders gesagt: Es geht darum, das Lernen zu organisieren – nicht das Lehren. Das mag trivial klingen. Aber es hat erhebliche Konsequenzen. Für alle Beteiligten.

 




Was macht man mit Schülern, die nicht wollen?

Wenn es keinen Grund gibt, etwas zu tun, dann ist das einer, es nicht zu tun. Und offensichtlich sehen viele Schüler oft keinen Grund, das zu tun was man von ihnen verlangt. Also tun sie es eben nicht – pünktlich sein zum Beispiel, anständig, kooperativ. Sie verweigern sich, verschlampen ihre Sachen, begegnen den Aufgaben (und jenen, die sie aufgeben) mit aufreizender Gleichgültigkeit.

Dumpfbackige Provokationen, Mobbing, Vandalismus, Gewalt, zelebrierte Faulheit sind allerdings nur die Spitze des Eisbergs, quasi die auf- und augenfälligen Spielarten, die Spielarten, die Schlagzeilen und Sitzungen produzieren. Das hat wohl auch damit zu tun, dass die Hemmschwellen gesunken sind. So meldet beispielsweise der Norddeutsche Rundfunk: «Die Zahl schwerer Gewaltvorfälle an Hamburgs Schulen ist im vergangenen Schuljahr um rund zehn Prozent gestiegen.»

Allerdings: Mit diesem Bild würde man den Schülern unrecht tun. Die Bandbreite der Ausdrucksformen schulischen Nichtwollens ist nämlich beachtlich. Und: Sich verweigern, das geht durchaus auch sozialverträglich und absolut systemkompatibel. So-tun-als-ob heisst eine entsprechende Konvention. Sie ist flächendeckend verbreitet und tritt in unzähligen Variationen auf. Und sie ist wohlgelitten. Denn man lässt sich auf einvernehmliche Weise in Ruhe.

In die gleiche Kategorie gehört die Devise «ja nicht auffallen». Dann läuft die Sache ziemlich stressfrei ab. Da kann man sich ruhig in die letzte Reihe setzen und sich geistig aus dem Kreidestaub machen – aber eben: nicht auffallen.

Einigermassen über die Runden kommt man überdies mit der Zlatan-Ibrahimovic-Methode: ein Spiel lang quasi inexistent sein, aber im entscheidenden Moment den Kopf oder den Fuss am richtigen Ort hinhalten (für Schüler: sich melden oder das Richtige aufs richtige Blatt scheiben). Diese subtile Variante des Nichtwollens lässt sich noch steigern, bis hin zum kreativ-kompetitiven Austesten des Systems – zum Beispiel gute Noten erzielen ohne je auch nur das geringste dafür getan zu haben.

Also: Nichtwollen ist selbstverständlicher und kulturprägender Teil des Schulsystems. Das ist keineswegs neu. Aber der Widerstand tritt wohl heute offener zutage. Ein Grund: Die Differenz zwischen dem, was in der Schule verlangt wird und dem, was die Lebensgestaltung erfolgreich macht, wird immer offensichtlicher. Das hat auch damit zu tun, dass die Bedeutung der Schule zunehmend reduziert wird auf Noten, Abschlüsse, Berechtigungen. Man spricht zwar von Inhalten, meint aber Noten. Und es ist eine alte Weisheit: Was hinten rauskommen soll, das bestimmt, was vorne geschieht. Kein Wunder, dass Schüler nicht wollen.

Nun sind die gleichen Schüler in anderen Lebensbereichen aber durchaus bereit, sich zu engagieren. Als Fans des FC Tupfingen reisen sie in die entfernteste weissrussische Provinz, um sich ein Europaliga-Spiel anzusehen, das sie sich nie und nimmer antun würden, wenn nicht der FC Tupfingen auf dem Rasen stünde. Sie nehmen Strapazen auf sich, investieren Geld und Ferientage – nicht wegen des Fussballs, nein, wegen ihres Vereins. Das Schlüsselwort heisst: Identifikation.

widerstand-identifikation

Es ist das gleiche Schlüsselwort, das für das Verhalten in der Schule handlungsleitend ist. Dazu stellen sich ein paar Fragen: In welchem Ausmass identifizieren sich Schüler mit dem was sie tun? Mit der Art und Weise, wie sie es tun? Mit den Menschen, mit denen zusammen sie es tun? Und mit jenen, die ihnen sagen, was sie tun sollen?

Die Antworten darauf lassen erkennen, wie sich das mit Wollen verhält. Dahinter steckt ein wichtiges Prinzip: je grösser die Identifikation, desto geringer der Widerstand – und umgekehrt. Das heisst: Wenn die Schule will, dass die Schüler wollen, muss sie Identifikation stiften. Denn: Man kann nichts gegen den Widerstand tun, nichts gegen Gleichgültigkeit, nichts gegen Aufschieberitis, nichts gegen Null Bock, nichts gegen So-tun-als-ob. Was man aber tun kann – und tun muss: Identifikation stiften. Und hier beginnt die Pädagogik. Kaum ein Schüler kommt nämlich in die Schule, weil er es kaum erwarten kann, sich mit Winkelhalbierenden zu beschäftigen. Identifikation entwickelt sich unterhalb dieser Sachebene, dort wo es um Verhalten geht und damit um Erfahrungen und Emotionen. Sie entsteht, wenn Menschen sich kompetent erleben, selbstwirksam, sozial eingebunden.

«Wer sich selber nicht mag», hat Friedrich Nietzsche einst zu bedenken gegeben, «ist fortwährend bereit, sich dafür zu rächen.» Identifikation stiften heisst demnach: dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche sich mögen – und zwar in der Schule. Und wann mögen sie sich? Wenn sie stolz sind, auf das, was sie tun. Und auf das, was sie damit erreichen. Und wie kann das gelingen? Was kann die Schule dafür tun? Wie kann sie identifikationsstiftend wirken?

Sie muss sich erstens für den einzelnen Lernenden interessieren. In einer Klasse sitzen dann eben nicht zwanzig Schüler, da sitzt zwanzig Mal ein Schüler, ein Individuum mit Stärken, Schwächen, Zielen. Und jeder dieser einzelnen Schüler muss sich kompetent erleben – beim Lernen, nicht beim Stören. Das heisst: Schule und Lehrpersonen haben sich in aktivierender Weise in den Dienst des Erfolgs des einzelnen Lernenden zu stellen. Misserfolg ist keine Alternative – zumindest keine identifikationsstiftende.

Zweitens: «Erfolg» braucht eine Bezugsnorm. Die wichtigste Bezugsgrösse für Heranwachsende sind die anderen Heranwachsenden. Gute Leistungen entstehen mit höherer Wahrscheinlichkeit in einem sozialen Kontext, in dem gute Leistungen als erstrebenswert betrachtet werden. Wer will schon als Streber gelten, falls er ein bisschen mehr tut als nur als allernötigste? Das stellt die Schule vor die Aufgabe, eine Leistungskultur zu etablieren, ein Klima, in dem es gut ist, gut zu sein. Peer-tutoring, also voneinander und miteinander lernen, ist beispielsweise ein wirkungsvoller, weil synergetischer Ansatz.

Und drittens müssen die Lehrpersonen selber Identifikation stiften. Das verlangt nach einer hohen pädagogischen Souveränität. Wohlverstanden: nicht fachliche Autorität, pädagogische Souveränität! Denn: Wer über pädagogische Souveränität verfügt, geniesst das Vertrauen und die Akzeptanz der Schüler. Souveränität schafft Autorität. Damit sind aber in keiner Weise die alten Unterwerfungsrituale gemeint. Nein, es geht um eine Form von Autorität, die darauf basiert, dass Schüler erkennen: Es ist gut, dass diese Person in meinem Leben ist – auch wenn es gar nicht immer angenehm sein muss, fordernd manchmal, herausfordernd. Denn was nicht herausfordernd ist, kann nicht als Erfolg verbucht werden.




Lehrplan 21 – warum einfach, wenn es kompliziert auch geht?

 

Die Schule soll Kindern und Jugendlichen helfen, sich im Leben zurechtzufinden. Das ist – wenigstens in den politischen Sonntagsreden – unbestritten. Dafür brauchen sie vielfältige Kompetenzen. Das leuchtet eigentlich auch ein. Also: Alles paletti mit dem Lehrplan 21? Der zielt ja in diese Richtung. Von wegen paletti. Ganz und gar nicht. Der neue Lehrplan für die Volksschulen will nicht so recht aus den Startlöchern kommen. Er hat und macht Mühe. Einer der Gründe: Für den schulischen Alltag scheint er nicht formuliert worden zu sein. Die Lust, sich in den Papierstoss hineinzulesen, hält sich in engen Grenzen – gelinde gesagt.

Für wen wohl Sachen wie «…können unterschiedliche Laute und Lautverbindungen heraushören, im Wort verorten (Anlaut, Mittellaute, Endlaut) und mit Erfahrungen aus der Erstsprache vergleichen …» geschrieben worden sein könnten? Klingt nicht gerade nach schulischem Alltag in der Unterstufe. Aber man weiss ja: Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis ist in der Praxis meist grösser als in der Theorie.

Wen wundert’s, dass diejenigen, die den Lehrplan umsetzen sollten, (die Lehrer) mit Unterschriftensammlungen aktiv in den Widerstand gehen oder sich ins pädagogische Reduit zurückziehen. Dass dabei auch abstruse und verklärte Argumente ins Feld geführt – und akzeptiert – werden, macht deutlich, auf welcher diffus-emotionalen Ebene die Scharmützel ausgefochten werden.

Die systemtypische Flucht in eine weichgespülte Beschwichtigungsrhetorik macht die Sache nicht besser. Im Gegenteil! Es ist im Grunde genommen eine Frechheit, über Jahre Unsummen von Geld in die Entwicklung eines Lehrplanes zu buttern, um dann flächendeckend verbale Beruhigungspillen zu verteilen und so zu tun, als ändere sich eigentlich kaum etwas. Natürlich ändert sich etwas. Oder sollte zumindest. Ist ja auch höchste Zeit.

Und im Grunde genommen ist die Sache ja eigentlich auch nicht so kompliziert. Die Schüler sollen etwas lernen. Lernen heisst: etwas wissen und können, das man vorher noch nicht gewusst oder gekonnt hat. Und um einen Jahrmarkt der Beliebigkeit zu vermeiden, kann man das, was zu lernen ist, näher beschreiben. Das ist weder neu noch spektakulär. Gut, wesentlich einfacher und praxistauglicher liessen sich die Dinge schon formulieren. Für die Niederungen des Alltages halt.

Deshalb haben wir den Lehrplan 21 umformuliert – umformuliert in Kompetenzraster. Ein Kompetenzraster vermittelt auf einer A4-Seite einen Überblick über das, was man in einem Fach im Verlaufe der Schulzeit lernen und können könnte. Wie das funktioniert? Ganz einfach: http://www.institut-beatenberg.ch/component/content/article.html?id=136. Die ergänzenden Checklisten geben den Lehrpersonen differenzierte Angaben für die inhaltliche Gestaltung des Unterrichts. Und die dazu passenden Lernaufgaben machen es möglich, dass Lernende ihren individuellen Möglichkeiten und Zielen entsprechend gefordert werden und sich vertieft und interdisziplinär mit den Themen auseinandersetzen. Relevanz, Verarbeitungstiefe, Nachhaltigkeit sind Stichworte dazu.




Für die Made im Speck macht es keinen Sinn, sich anzustrengen

 

Es gibt Begriffe, die widerspiegeln den Zeitgeist. «Rechte» zum Beispiel ist solch ein Wort. «Pflichten» nicht. «Fordern» ist in. «Leisten» out. «Haben»: ja. «Tun»: lieber nicht. Gesellschaftliche Trends zeigen sich in Haltungen und Handlungen. Und die wiederum finden sich in dem, was gesagt und geschrieben wird. Wirklichkeit schafft eben auch Sprache. Nicht nur umgekehrt.

Nach den verheerenden Kriegszeiten in der Mitte des letzten Jahrhunderts standen die Zeichen auf «Aufbau». «Ärmel hochkrempeln» hatte etwas mit Arbeit zu tun – nicht mit Modeschau. Und Fleiss und Arbeit sollten sich bezahlt machen. Das hat offensichtlich funktioniert. Jedenfalls lebt die heutige Gesellschaft nicht schlecht mit der Hinterlassenschaft der Gründergeneration: Man leistet sich Erdbeeren im Winter, kreiert Minderheiten zur Pflege des Gutmenschentums, produziert im Namen politischer Korrektheit immer weniger Sagbares und immer mehr Unsägliches, suhlt sich in den medialen Seichtgebieten, adelt Straftäter zu Aktivisten, erfindet den Lohn fürs Nichtstun, füttert eine Bürokratie, die sich nicht nur ausbreitet wie ein Krebsgeschwür, sondern sich auch so verhält und auf alles zugreift, was noch einigermassen gesund ist.

Eine Kultur drückt sich in ihrer Sprache aus. Bis in die Gegenwart hinein verfallen ganze Länder in eine kollektive Schockstarre bei Begriffen wie «Führer» oder «Führung». Will heissen: Es gibt Begriffe, die sind assoziativ belastet. Entsprechend lassen die heutigen Lebensweisen bestimmte sprachliche Wendungen als geradezu kontaminiert erscheinen. «Arbeit» beispielsweise. Auf einer Internet-Plattform konnten die Menschen darlegen, was Arbeit für sie bedeutet. Plackerei, Stress, Ärger, Aufgabe seiner selbst, unnötig, Selbstausbeutung, Kapitalismus – das waren die häufigsten Nennungen. In dieser Reihenfolge.

Ein anderes Beispiel: «Disziplin» und «Selbstdisziplin». Komplett aus der Mode. Klingt nach Arbeit. Und «Arbeit» – siehe oben. Verständlich deshalb: Wenn Menschen nach Charakterstärken gefragt werden, landet «Selbstdisziplin» abgeschlagen auf dem letzten Platz.[1] Aufschlussreich ist aber: Bei den Schwächen nahm «mangelnde Selbstdisziplin» den Spitzenrang ein. Das heisst: In den Niederungen des Alltages, dort wo es drauf ankommt, merken die Menschen, was fehlt. Selbstdisziplin eben, die Fähigkeit, den inneren Schweinehund an die kurze Leine zu nehmen. Das klingt nicht nur anstrengend – es ist es auch. Aber genau das ist es, was eigentlich Spass macht, das Gefühl der kleinen Siege über sich selbst. Und vor allem auch: Es befreit. Selbstdisziplin hat etwas hochgradig Befreiendes. Sie befreit davon, zur Pillenschachtel, zur Zigarette oder zum zweiten Stück Kuchen greifen zu müssen. Sie befreit davon, sich anlügen zu müssen, weil man das, was man eigentlich tun wollte oder sollte, vor sich hergeschoben hat wie eine Wanderdüne. Sie befreit davon, «ja» zu sagen, wenn man eigentlich «nein» meint.

Allerdings, für diese Art der Befreiung kann man sich nicht auf die Anderen, auf den Staat oder auf wen auch immer berufen. «Selbst» heisst das Schlüsselwort. Auch das ist ein Begriff, der fehlt im aktiven Wortschatz der Verantwortungsflüchtlinge, die in die Willkommenskultur der Komfortzone drängen, um dort ihre Befindlichkeiten zu zelebrieren. Es ist der ideale Brutplatz für die Idee, ein Anrecht zu haben auf einen bedienten Sonnenplatz im Wohlfühlklima der Vollkaskogesellschaft. Gerade im urbanen Chic des «Anything Goes» haftet allem, was nach Selbstdisziplin riecht, der Stallgeruch des Uncoolen an, des Verstaubten, des Ewiggestrigen. «Anstrengung», «Fleiss» und «Leistung» nehmen dementsprechend Spitzenplätze ein auf der Liste der zeitgeistigen Unwörter. Für die Made im Speck macht es schliesslich auch keinen Sinn sich anzustrengen.

Und dennoch – oder gerade deswegen – ist es allerhöchste Zeit, die uncoolen Begriffe wieder aufzunehmen in die pädagogische und erzieherische Alltagssprache. Denn: Der Weg in ein «gutes» Leben führt über eine Stärkung der Selbstdisziplin.

 

 

 

[1] Baumeister, Roy/Tierney, John: Die Macht der Disziplin. Wie wir unseren Willen trainieren können.




Disziplinierung durch Noten: pädagogische Konkurserklärung

Wenn es um Schulnoten geht, hört der Spass auf. Der Kanton St. Gallen will das untere Ende der Notenskala abzwacken. Schüler sollen nicht mehr mit einer Eins oder einer Zwei (schlechteste Noten in der Schweiz) traktiert werden dürfen. Das füllt die Kommentarspalten. Und die Meinungen weichen nur sprachlich und orthografisch voneinander ab. Inhaltlich liegt man sich vom Stammtisch bis zum Audimax in trauter Einigkeit in den Armen: Es braucht schlechte Noten. Sonst würde man den Schülern praktisch den roten Teppich zum Nichtstun auslegen. «Dann machen sie gar nichts mehr» – so der meinungsmässige Einheitsbrei. Dem kann man zustimmen – wenn man unbelastet von lästigen Fakten darauf verzichtet, darüber nachzudenken.

Denn: Macht und Disziplinierung durch schlechte Noten – das ist eine pädagogische Konkurserklärung. Es legt schonungslos die haltungsmässigen Tiefenstrukturen der Schule offen. Und es führt zur Frage: Um was geht es eigentlich? Weit über zehntausend Stunden verbringen Kinder und Jugendliche in der Schule. Das ist verdammt viel Lebenszeit. Und es kostet verdammt viel Geld. Und das, was die Schüler dazu bringt, etwas zu tun, soll das Damoklesschwert der schlechten Noten sein, das drohend über ihren Köpfen schwebt? Das darf doch nicht wahr sein! Denn wenn die Schule die Strafnoten zur Disziplinierung wirklich braucht, dann wird damit explizit und implizit zum Ausdruck gebracht: In der Schule geht es um Noten. Und in der Tat: „Den Schülern wird die generelle Auffassung vermittelt, dass das Ziel der Schularbeit darin besteht, sich, egal mit welchen Mitteln, um gute Noten und nicht um das Verstehen der Sache zu bemühen». (Lehtinen 1997).

Lernen zum Zwecke der Wiedergabe an Proben und Prüfungen – ein beängstigend triviales Muster. Das hat schon Peter Bichsel ins Grübeln gebracht: „Hätte ich meine Schüler zu kritischen Menschen gemacht, zu Menschen, denen Entscheide schwerfallen, zu Menschen, die nicht nur in den Kategorien richtig und falsch denken, sie wären alle auf ihrem weiteren Schulweg gescheitert“ (Bichsel 1971). Und es hat ihn zur selbstkritischen Feststellung geführt: Meine Aufgabe als Lehrer hat eigentlich darin bestanden, Kinder mit Prüfungen auf Prüfungen vorzubereiten.

Nach allem was man weiss – wenn man es denn wirklich wissen und nicht einfach die Augen ein bisschen fester zusammenkneifen will – kommt man nicht um die Erkenntnis herum: Nicht nur die Noten am unteren Ende der Skala wegputzen – alle! Weg damit! Aber eben: Bei Schulnoten hört der Spass auf. Die emotional geführte Debatte um schulische Leistungen findet in einem speziellen Kosmos statt, in dem viele Regeln des gesunden Menschenverstandes ausser Kraft gesetzt sind.

Das ändert nichts daran: Noten korrumpieren Lernen. Ein enttrivialisiertes schulisches Lernen, das auf Verarbeitungstiefe und Nachhaltigkeit ausgerichtet ist, bedarf eines anderen, eines lernfordernden und lernfördernden Umgangs mit Leistungen. Zum Beispiel: Kompetenzraster (www.institut-beatenberg.ch/component/content/article.html?id=136) in Verbindung mit Portfolios.

In der medialen Empörungsbewirtschaftung um die Abschaffung der Einser und Zweier wurde ein Standpunkt prominent hervorgehoben: «Schlechte Leistungen sollen auch schlecht bewertet werden». Stimmt! Doch: An der schulischen Leistungserbringung ist ja nicht nur eine Person beteiligt. Denn wenn ein Schüler nach einigen Unterrichtsstunden einfach absolut nichts weiss und nichts kann (und Eins heisst ja: nichts gewusst, nichts gekonnt), dann muss man sich schon fragen, wie es dazu kommen konnte. Auf dem Weg zum Nichtswissen und Nichtskönnen waren schliesslich auch die Lehrpersonen mit von der Partie. Sie hatten Einfluss auf das Lerngeschehen. Will heissen: Wenn ein Schüler eine Leistung abliefert, die als jenseits von Gut und Böse beurteilt wird, hat das auch immer mit dem Lehrer zu tun. Noten lassen immer auch Rückschlüsse zu auf das System und auf die Person, die sie erteilt. Oder frei nach Descartes: Wie ein Lehrer ein Lernergebnis beurteilt, sagt mindestens so viel über ihn aus wie über den Schüler. Da verbindet die Forderung «schlechte Leistungen sollen auch schlecht bewertet werden» mit der Frage: Gilt das auch für die Arbeit der Lehrer? Und welche Konsequenzen hat das? Zum Beispiel auf das Arbeitszeugnis? Da gelten ja klare Regeln: In Arbeitszeugnissen sind negativen Formulierungen nicht erlaubt. Das darf offensichtlich einem Erwachsenen nicht zugemutet werden. Selbst lausigste Leistungen werden sprachlich so weichgespült, dass aus jedem faulen Sack ein Held der Arbeit wird. Schüler dagegen soll man mit Strafnoten piesacken. Und das erst noch mit einem Instrumentarium, das so ziemlich allem widerspricht, was man über Lernen weiss. Irgendetwas stimmt da nicht.

 

 

 




Pussyschule

Büne Huber, Frontmann von «Patent Ochsner», hat einen internationalen Hit gelandet. Weniger mit seiner Musik als mit einem launigen Manifest gegen den aktuellen «Pussyfussball». In einem Liveinterview in der Pause eines Eishockeyspiels beklagte er in markigen Worten, dass im Fussball, auf diesem Jahrmarkt der Eitelkeiten (z.B. Tätowierungen), Schein und Bschiss (z.B. Schwalben) das Geschehen dominierten.

Die Parallelen zu den Schulen sind augenfällig. Die Eitelkeiten beziehen sich zwar weniger auf Tattoos und Haarschnitte als auf die Zugehörigkeit zu Schularten (zum Beispiel Gymnasium und Universität). Schein und Bschiss sind aber ebenso weitverbreitet, denn es geht weniger um Inhalte als um Noten und Berechtigungen. Und mit dem ewigen Gejammer über den ach so unerträglichen Stress werden laufend verbale Schwalben produziert. Pussyschule halt.

«Die erschreckenden Bildungsdefizite junger Deutscher» titelt die Welt (11.04.15). Sie bezieht sich auf eine neue Studie, die offenbart, dass immer mehr junge Leute in Ausbildung und Studium kläglich scheitern. Einen Grund ortet man in der weit verbreiteten Kultur des Durchwinkens. Will heissen: Möglichst viele Jugendliche sollen mit dem Tattoo «Gymnasium» herumlaufen. Das hebt die Akademisierungsquote. Und das wiederum macht sich gut in den Statistiken. Und in den politischen Sonntagsreden.

Aber: Es bleibt nicht ohne Folgen. Jedenfalls beklagt die Studie fehlende Grundlagenkompetenzen bei den jungen Leuten – und zwar in erschreckendem Ausmasse. «Die politische gewollte Inflation der Bildungsabschlüsse», so die Welt, sei mit einer «dramatischen Absenkung der Anforderungen» erkauft worden.

Selbst ein flächendeckendes System von Nachhilfe – unverzichtbare Stütze des Schulsystems – könne nicht verhindern, weiss das Blatt zu berichten, «dass heutzutage ein erschreckend hoher Anteil der Lehrlinge und Studenten scheitert». Nötig seien, wird aus der Studie zitiert, neue und verbindliche Mindeststandards.

Klingt auf den ersten Blick vernünftig: Anforderungen – fachliche natürlich – raufsetzen. Und das Problem ist gelöst. Zwar würden sich möglicherweise die Gymnasien und Hochschulen ein bisschen entvölkern. Doch: Neue Standards heben den Bildungsstand nicht. In der Spitze nicht – und schon gar nicht in der Breite. Denn die Probleme lassen sich nicht mit dem Denken lösen, das die Probleme erst verursacht. Eines der Grundprobleme ist diese tief verwurzelte Idee, schulisches Lernen sei dazu da, Standards zu erfüllen. Hier liegt der Hund begraben Denn was hinten rauskommen soll, das bestimmt, was vorne geschieht. Oder wie es Bertrand Russell formuliert hat: «They work to pass and not to know, alas they pass and do not know.»

Das offenbart auch ein Blick auf die Maturaprüfungen der Berner Gymnasien. «Fast die Hälfte aller Maturanden hat in den letzten zwei Jahren eine ungenügende Maturanote in Mathematik geschrieben. Das Fach wird bewusst geopfert», weiss der Bund (04.02.15) zu berichten. Einer der befragten Gymnasialrektoren bringt die Sache auf den Punkt: Die angehenden Maturanden gingen «sehr ökonomisch vor, sie überlegen sich, wie sie mit kleinstem Aufwand zum grössten Erfolg kommen». Nur damit es klar ist: Der Begriff «Erfolg» wird dabei synonym verwendet für «Noten» und «Zulassung». Man nennt das auch «Hochschulreife». Denn dort geht es ja im selben Stil weiter: Welche Veranstaltung liefert mir mit geringstem Aufwand am meisten Punkte für den Bachelor?

Wenn nun also Schulen und Hochschulen mit zunehmendem Personal abnehmenden Erfolg produzieren, woran mag das denn liegen? Die materiellen Voraussetzungen waren noch nie so gut, der Gang an die Futtertröge der schulischen Bildung noch nie so einfach. Und die Bevölkerung wird im Schnitt auch nicht dümmer geworden sein.

Also: Woran liegt es denn?

Es muss an den beteiligten Menschen liegen. An wem oder was denn sonst? Das heisst: Es liegt am einzelnen Schüler und an seinen Fähigkeiten, mit Anforderungen so umzugehen, dass er stärker und klüger aus ihnen hervorgeht. Denn wachsen kann man nur an der Herausforderung.

Das müsste die Schule und ihre Exponenten zur Frage führen: (Wie) Werden junge Menschen in die Lage versetzt, fit zu sein für die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen des Lebens? (Wie) Lernen sie, ihr Lernen und ihr Leben erfolgreich zu gestalten? Und: Welche Beiträge hat die Schule dazu zu leisten?

Dabei geht es nicht um eine egoistische und quantitative Definition von «Erfolg». Es geht vielmehr um so etwas wie «Wertschöpfung». Ein bisschen weniger sperrig: mehr Werte generieren als Kosten verursachen.

Das führt zurück zu Büne Huber und seinem Plädoyer für das Eishockey. Die nordamerikanische Hockeyliga führt seit 1983 eine sogenannte Plus-Minus-Bilanz. Sie gibt für einen Feldspieler die Differenz von Toren und Gegentoren an, die gefallen sind, während er auf dem Eis war. Angeführt wird diese Bilanz von Wayne Gretzky, der im Rufe steht, bester Spieler aller Zeiten gewesen zu sein. Von ihm stammt das bemerkenswerte Zitat: «I skate to where the puck is going to be, not where it has been.» Ein Motto, das im wahrsten Sinne des Wortes Schule machen sollte.

Was braucht es, damit Menschen nicht nur im Eishockey zu einer positiven Plus-Minus-Bilanz kommen? Sie müssen dorthin gehen, wo der Puck kommen wird. Und was ist dort? Das Leben. Das Leben mit seinen vielfältigen und sich verändernden Herausforderungen.

Wie dieses Leben in einigen Jahren aussehen wird, das ist schwer zu sagen. Und welches Wissen die Menschen brauchen werden, auch für eine solche Prognose sollte man nicht leichtfertig die Hand ins Feuer legen. Was die Menschen aber sicher in ihr weiteres Leben mitnehmen werden, ist: sich selber. Daraus leitet sich die eigentlich wichtigste Aufgabe für die Schule ab: sich um die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler zu kümmern. Damit sie sagen können «I am my future» – was immer sie auch bringen mag.

Wer etwas erreichen will, muss etwas tun dafür, eine Leistung erbringen, sich anstrengen. Das verlangt, die Komfortzone zu verlassen, sich – auch gedanklich – dorthin zu begeben, wo es unbequem werden kann. Wie im Eishockey: Eine positive Plus-Minus-Bilanz kriegt, wer sich dorthin begibt, wo der Puck kommen wird. Das ist meist auch der Ort, wo man sich blaue Flecken holen kann.

Nun, blaue Flecken muss man sich ja im schulischen Kontext nicht unbedingt einhandeln. Aber: Komfortzone verlassen, sich den Unbequemlichkeiten stellen, das gilt auch für die Menschen in der Schule. Wer will, dass Schüler erfolgreich sind, muss ihnen etwas zutrauen. Aber mehr noch: muss ihnen auch und vor allem etwas zumuten. Ohne Weichspüler. Denn: Smooth seas do not make skillful sailors. Das klingt weder chillig noch easy. Ist es auch nicht. Und soll es auch nicht sein. Das Leben ist eine Aufgabe. Und wer es als Selbstbedienungsladen versteht muss sich bewusst sein: Irgendeinmal kommt man an der Kasse vorbei.

Was deshalb die Schule ihren Schülern (und dem Personal) versprechen muss: dass es anstrengend sein wird. Herausfordernd. Widerständig. Zuweilen auch unbequem. Dass es keine Abkürzung gibt. Und dass all dies genau das ist, was sie brauchen, um zu wachsen. Um gut zu werden. Um durchzuhalten. Um Widerstände zu meistern. Um stolz sein zu können auf sich. Um sich zu mögen.




Eltern hatten es leichter – weil sie es schwerer hatten

Irgendwie hatten es Eltern früher leichter – weil sie es schwerer hatten. Man wusste: die Milch stammt nicht vom Einkaufscenter. Und man wusste: Das Geld kommt nicht vom Bankkonto. Wer etwas will, muss etwas tun dafür – dieser gesellschaftliche Konsens hat die Erziehung massgeblich beeinflusst. Es gab kein Internet, dafür aufgeschürfte Knie und dreckige Fingernägel. An ADHS und Stress konnte man nicht leiden, weil es die Diagnosen noch gar nicht gab. Bei «Frühenglisch» wäre den staunenden Menschen der Unterkiefer ebenso auf die Tischplatte gefallen wie bei «pränataler musikalischer Förderung». Die Kinder waren einerseits eingebunden in die familiären Alltagspflichten. Sie hatten etwas Sinnvolles zu tun. Andrerseits waren sie auch einfach «draussen». Und um sich zu treffen, musste man sich organisieren. Ohne Handy notabene. Und ohne Taxi Mama. Auch der Schulweg fand draussen statt. Er war oft beschwerlich – und entsprechend gesund.

Doch das sind tempi passati. Die saturierte Gesellschaft der Gegenwart will es den Kindern einfacher machen. Bequemer. Sie sollen es besser haben, mehr geboten kriegen. Entsprechend werden die Kinderzimmer elektronisch aufgerüstet und die Bewohner mehr oder weniger sich selbst überlassen. So haben die meisten Eltern keinen Schimmer, wohin sich der Nachwuchs im Netz verkriecht. Aber es gibt auch die andere Seite: Die Kinder werden – als Investitionsprojekt ihrer Eltern – herumgereicht und herumchauffiert, vom Tennis ins Yoga zum Englisch für Höchstbegabte, um sich dann in der Nachhilfe noch am kleinen Latinum abzumühen.

Äussere Hektik wechselt sich ab mit innerer Leere vor dem Bildschirm. Fast zwei Drittel der Kinder möchten mit anderen spielen – selten tun sie es. Weil sie dann doch lieber drin bleiben bei den Steckdosen.

Die «Welt am Sonntag» (28.02.16) schlägt Alarm. Die Kinderkrankheiten sind um eine erweitert worden: Burn-out. Der Nachwuchs kommt mit den Anforderungen des Alltags immer weniger zurecht. Zwei Drittel geben in einer Umfrage an, die Hausaufgaben nur mithilfe der Eltern zu schaffen. Zwei Drittel! Gleichzeitig schaffen sie es aber locker, durchschnittlich mehrere Stunden pro Tag vor Bildschirmen die Zeit mit digitalem Schwachsinn totzuschlagen. Irgendetwas stimmt da nicht.

Um was geht es eigentlich? Die Antwort ist im Grunde genommen einfach: Kinder und Jugendlichen sollten fit sein fürs Leben. Das ist Ziel von Bildung und Erziehung. «Fit» – dafür gibt es über 120 Synonyme. Und alle stehen für positive menschliche Eigenschaften – Eigenschaften und Verhaltensmuster, die einen weiterbringen. Und die einen in die Lage versetzen, die Herausforderungen und Widerständigkeiten des Lebens zu meistern, souverän und unverkrampft.

Davon kann aber beileibe nicht die Rede sein, wenn der Kinderarzt sich mittlerweile auf Burn-out spezialisieren muss statt auf Masern und Röteln.

Das führt die «Welt» zur Forderung: «Kinder müssen lernen, selbstständig zu werden. Dazu gehört, sie den Umgang mit Stresssituationen lernen zu lassen. An Grenzen zu gelangen und sie auch mal zu überschreiten. Das setzt aber vor allem eines voraus; innere Stärke, Selbstvertrauen, die Zuversicht, es bei einem nächsten Anlauf zu schaffen.»

Ja, stimmt, kann man da nur sagen. Und wo lernt man das? Dort, wo es aufgeschürfte Knie und dreckige Fingernägel gibt – auch im übertragenen Sinne.

 




Benehmen als Schulfach: «Danke» haben wir noch nicht gehabt

Benehmen soll ein Schulfach werden. Kein Witz! Für drei Viertel der deutschen Bevölkerung gehört just das auf den Stundenplan. Für die Schweiz sehen die Zahlen ähnlich aus. Auch hierzulande wird es als Aufgabe der Schule betrachtet, dem Nachwuchs Flötentöne beizubringen.

«Hattet ihr heute Benehmen?» – «Nein, ist ausgefallen.» «Hast du die Hausaufgaben in Benehmen schon gemacht?» «Habt ihr in Benehmen schon gelernt, danke zu sagen?» – «Nein, das war noch nicht dran.»

Das ist natürlich Nonsens. Abgesehen davon, dass das Konzept der Schulfächer an sich revisionsbedürftig ist – benehmen und sich anständig verhalten lernt man nun wirklich nicht, weil es auf dem Stundenplan steht. Die Kinderstube lässt weder vor den Bildschirm verlagern noch durch Arbeitsblätter ersetzen.

Dennoch: Die Schule kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen und den Anstands-Schwarzpeter bequem an die Eltern zurückadressieren. Im Gegenteil: Schulisches Lernen ist nichts anderes als menschliches Verhalten. Die Menschen treffen sich in der Schule. Sie verhalten sich irgendwie. Und dieses Verhalten bringt sie irgendwo hin. Wer also will, dass Lernende erfolgreich sind, muss sich vorrangig um ihr Verhalten kümmern. Um ein Verhalten, das hilft, den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein. Und da gehört anständiges Benehmen dazu! Rücksicht. Respekt – sich, anderen und den Dingen gegenüber.

Aber: Jedes Verhalten steht in Abhängigkeit zum Kontext. Niemand geht beispielsweise in Badehosen vom Strand an eine Beerdigung. Nicht weil es verboten ist, sondern weil, was hier passt, sich dort nicht geziemt. Für die Schule heisst das: Eine Kultur aufbauen damit eine kontextuelle Bezugsnorm schaffen, die Respekt und Anstand zum Normalverhalten macht. Benehmen ist Alltag, kein Schulfach.

Eine der Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen ist allerdings, sich von Erwachsenen zu lösen, sich abzugrenzen. Abgrenzen kann man sich freilich nur, wenn es Grenzen gibt. Eine Kultur des Anstands braucht deshalb Grenzen. Eine Kultur des Anstands ist damit auch eine Einforderungskultur mit transparenten Erwartungen. Dabei geht es nicht um den kniggetauglichen Gebrauch der Schneckenzange oder des Austernlöffels. Es geht um elementare Dinge. Zum Beispiel, dass man lernt, «bitte» zu sagen. Oder «danke».

Dankbarkeit geht übrigens weit über anständiges Benehmen hinaus. Dankbarkeit steht für eine Werthaltung. Und Dankbarkeit fördert die Lebenszufriedenheit. Das hat eine Studie eindrücklich unter Beweis gestellt: Die Versuchspersonen nahmen sich am Abend jeweils fünf Minuten Zeit um aufzuschreiben, wofür sie an diesem Tag dankbar waren. Das ist wenig. Und doch unglaublich viel.




Weniger Leistung – weniger Schulstress?

Alarm! Alarm!: «Der hohe Leistungsdruck macht Schüler krank» – eine bedrohliche Schlagzeile [20 Minuten vom 25.01.16]. Und weiter im Text: «Schüler leiden an Schlafstörungen und greifen zu Schmerzmitteln.» Ein Schulrechts-Experte (auch das gibt es) forderte deshalb weniger Tests. Tags darauf trieb das Drama publizistisch einem neuen Höhepunkt zu: «Mein Sohn bricht regelmässig zusammen. Viele Schullektionen, Hausaufgaben ohne Ende und dauernder Prüfungsstress: Betroffene erzählen, wie sie die Schule ans Limit bringt.»

Nun, Prüfungen können in der Tat Sorgen bereiten – nicht nur den Kindern und Jugendlichen, sondern auch ihren Eltern. Bei Lichte besehen sind es aber nicht eigentlich die Prüfungen. Es sind die Noten. Denn Tests können – sind sie nicht mit expliziten oder impliziten Selektionswirkungen verbunden – einen durchaus positiven Effekt zeitigen (testing-effect).

Im gängigen Verständnis von Schule werden Prüfungen aber meist mit Noten und in der Folge mit Rangzuweisungen und Berechtigungen verbunden. Das dient weniger der schulischen und persönlichen Entwicklung der Schüler. Es dient vor allem jenen, die Prüfungen durchführen und Noten ausstellen dürfen. Es ist schlicht und ergreifend ein individuelles und institutionelles Machtinstrument. Und wie man weiss: Macht hat etwas Korrumpierendes. Die ganzen Beurteilungsmechanismen bestimmen denn auch das Denken und Handeln der beteiligten Menschen. Deshalb: Wer sich die Mühe nimmt, die Daten und Fakten hinter den ganzen Prüfungs- und Noteninszenierungen ein bisschen näher anzuschauen, wird sich kaum vor der Erkenntnis drücken können: aufhören damit!

Peter Bichsel, damals noch Lehrer, hat es zur Feststellung veranlasst: «Meine Aufgabe bestand darin, Schüler mit Prüfungen auf Prüfungen vorzubereiten.» Ernüchternd.

Die Universität St. Gallen hat es sich einfach gemacht. Sie hat den Studierenden alte Prüfungen vorgelegt – die zusammen mit den Resultaten schon auf dem Netz zu finden waren. Irgendwie symptomatisch.

Aber eigentlich liegt das individuelle Problem ohnehin ganz woanders. Denn Hand aufs Herz: Die überforderten Schüler fühlen sich nicht weniger überfordert, wenn man ihnen ein paar Prüfungen und ein paar Aufgaben erlässt.

In einer Forschungsarbeit hat man die Stresssymptome von Jugendlichen (in Deutschland) unter die Lupe genommen. Etwa ein Fünftel der «normalen» Jugendlichen (Normalstichprobe) – zeigte körperliche Auffälligkeiten wie Appetitlosigkeit, Bauch- oder Kopfschmerzen, ein Viertel klagte über Schlafprobleme und fast die Hälfte fühlte sich häufig erschöpft.

Ganz anders sah es aus bei Jugendlichen, die sich neben der Schule über eine längere Zeit zusätzlich in einem intensiven Zirkusprojekt engagierten. Das heisst: Sie waren erheblich stärker belastet. Neben dem gleichen Schulprogramm wie ihre «normalen» Kollegen, hatten sie eine Menge zusätzlicher Herausforderungen zu bewältigen. Eigentlich müssten sie sich also deutlich mehr gestresst gefühlt haben. Und eigentlich müssten sie entsprechend mehr Symptome zeigen. Nein! Das Gegenteil war der Fall. Acht- bis zehnmal weniger meldeten sie Beschwerden an. Also kaum der Rede wert.

Und es kann ja nicht verwundern. Denn eben: Nicht die Herausforderung, die Belastung ist das eigentliche Problem. Es ist Wahrnehmung (die nichts mit «wahr» zu tun hat). Und es ist der Umgang damit – die mentale Fitness, die Fähigkeit, Impulse zu kontrollieren und Gratifikationen aufzuschieben, die Fähigkeit, Herausforderungen anzunehmen und nicht auf den Weg des geringsten Widerstandes auszuweichen. Dafür liefert die einschlägige Forschung eindrückliche Ergebnisse. Aber eigentlich weiss das auch, wer ehrlich ist mit sich.

Und was lässt sich tun? Die Jugendlichen in die Lage versetzen, mit Herausforderungen konstruktiv umzugehen. Ihnen helfen, fit fürs Leben zu werden. Sie zu stärken. Empowerment heisst der englische Begriff dafür. Das beginnt dort, wo es unbequem wird. Wie jedes Training.




Heizer mit Immatrikulationshintergrund

Als die Dampflokomotiven ausrangiert wurden, brauchte es keine Heizer mehr. Logisch! Überhaupt nicht logisch! Denn bis weit in die heutige Zeit hinein fuhren die Heizer trotzdem im Führerstand mit – am längsten in England. Margaret Thatcher hat dann aber den Gewerkschaften den Tarif erklärt und die Heizer aus den elektrischen Lokomotiven wegrationalisiert. Das ist noch gar nicht so lange her.

Eigentlich verrückt. Da werden Leute ausgebildet, die es gar nicht braucht. Und dann werden sie irgendwie beschäftigt, weil sie ja da sind. Das ist wie wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt. Abwegig, bar jeder Vernunft. Könnte man meinen.

Doch: Wenn es um die akademische Ausbildung geht, scheint sich der gesunde Menschenverstand ebenfalls aus dem Kreidestaub gemacht zu haben. Gemäss dem schweizerischen Bundesamt für Statistik ist die Zahl der Absolventen in den Geistes- und Sozialwissenschaften zwischen 2002 und 2008 um 38 Prozent gestiegen. Mit welchen überlebenswichtigen Fragen man sich da auseinandersetzt, zeigt beispielsweise das Semesterprogramm der Literaturwissenschaften an der Universität Zürich. «Wie verhält sich die inhärente Pluralität literarischer Texte dazu, dass jeder literarische Text als solcher auch eine Singularität darstellt?» Oder nicht minder bedeutungsschwanger: «Was bedeutet der Prozess der Weltliteratur zum Grossen, Gleichen, Allgemeinen, wie behauptet sich das Kleine gegenüber dem Grossen, der einzelne poetische Text gegenüber der Weltliteratur?»

Der Sinn solch akademischer Sandkastenübungen erschliesst sich nicht jedem Normalsterblichen auf Anhieb. Wahrscheinlich sind sie – die Normalsterblichen – halt einfach zu weit weg von den heiligen Hallen des Geistes. Oder andersrum: Sie sind zu nah am tätigen Leben, an den Alltagsthemen – sie sind quasi realitätskontaminiert. Und mit Belanglosigkeiten – wie dem Leben – mag man sich in den Elfenbeintürmen ja nicht belasten. Das wäre ja unter jeder Würde: Wenn der Hochschulbetrieb sich von so etwas Profanem wie «Nutzen» müsste leiten lassen. So wird unentwegt Hochschulausbildung gefördert – um jeden Preis. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Eigentliche schade. Denn die Schweiz verfügt über ein elaboriertes duales Bildungssystem. Und es wäre wahrscheinlich allen besser gedient, dieses System flexibel an die sich verändernden Bedürfnisse anzupassen, statt die Leute massenweise in die Akademisierungsfalle zu locken.

Denn gerade auch im internationalen Vergleich zu jenen Ländern mit inflationär hohen Hochschulquoten ist hierzulande die (Jugend)Arbeitslosigkeit statistisch kaum existent.

Demgegenüber sind die Aussichten – zum Beispiel für die Absolventen der Sozial- und Geisteswissenschaften in den Niederungen der Arbeitswelt keineswegs rosig – ausser natürlich im öffentlichen Sektor. Trotzdem werden massenweise Leute ausgebildet, die es eigentlich nicht braucht. Aber wenn man sie nun schon ausgebildet hat, schafft man halt irgendwelche Beschäftigungen. Wie weiland für die Heizer auf elektrischen Lokomotiven. Heutzutage heizen sie zwar auch – die Bürokratie an. Und: Sie haben Immatrikulationshintergrund.

Die Heizer haben es sich damals an ihrem «Arbeitsplatz» entweder behaglich eingerichtet oder sie waren ob ihrer Überflüssigkeit frustriert. Weshalb soll das heute anders sein?




Bildungsdiskussionen nach der Methode des texanischen Scharfschützen

Fliegen ist gefährlich. Nein! In der Luft unterwegs zu sein in einem modernen Verkehrsflugzeug, das ist eine relative sichere Art zu reisen.

Fliegen ist gefährlich. Ja! Die Arme auszubreiten und vom Berg runterzufliegen, das kommt auf keinen Fall gut.

Mit anderen Worten: Fliegen ist nicht einfach Fliegen. Es kommt darauf an. Nicht das Was ist entscheidend, sondern das Wie. Es ist das Wie, das den Unterschied macht. Beim Fliegen. Beim Fussball. Beim Musizieren. Und: In der Schule. Ja, auch in der Schule.

Doch die Sprache in der Schule ist eine Was-Sprache. Und die Sprache über die Schule auch. Man nimmt einen Begriff aus der Was-Kiste – Individualisierung zum Beispiel oder Frontalunterricht oder Kompetenzraster oder ein anderes Reizwort – und flugs werden die Meinungshaubitzen in Stellung gebracht. «Das bringt nichts!» – «Doch, so lernen die Kinder viel besser!»

Reduziert auf Schlagworte entbrennen dann politische und mediale Diskussionen von einer kaum zu überbietenden argumentativen Schlichtheit. Oberflächlich und undifferenziert. Pädagogische Kulissenschieberei halt. Das beginnt schon beim Begriff «Lernen». Alle verwenden ihn. Aber kaum jemand nimmt sich je die Mühe zu definieren, was damit gemeint ist. Logisch. Denn von jetzt an ginge es intellektuell ans Eingemachte. Das erspart man sich doch lieber. Auf der Was-Ebene, unbelastet von vertiefter Auseinandersetzung, lässt sich ohnehin leichter reden.

Da orientiert man sich viel lieber an der Methode des texanischen Scharfschützen: Dieser Schütze schiesst ohne zu zielen auf ein Scheunentor, zeichnet anschliessend eine Zielscheibe um das Einschussloch und freut sich über den perfekten Treffer.

Schuldiskussionen auf der Was-Ebene bleiben im Vorzimmer des Denkens stecken. Denn ob man mehr oder weniger Mathematik «hat», ob man dem, was man tut «Individualisierung» sagt oder ob man Kompetenzraster einsetzt, das ist erst einmal völlig unerheblich. Auf das Wie kommt es nur an! Ob ein Lehrer seine Schüler begeistert oder ob er sie frontal frustiert in die Pause schickt, das hat nichts, aber auch gar nichts mit dem Begriff zu tun, den man dafür verwendet.

 




Aufmerksamkeit: Sogar der Goldfisch ist besser

Mittlerweile zeigt uns sogar der Goldfisch den Meister. Nicht im Schwimmen, das ginge ja noch. Nein, in der Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Neun Sekunden kann ein Goldfisch seine Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Sache richten. Das ist nicht berauschend viel. Aber immerhin, um seine Konzentrationsfähigkeit ist es besser bestellt als um jene des durchschnittlichen Menschen. Die sank nämliche von zwölf auf nunmehr lediglich acht Sekunden. Das heisst: Sogar der Goldfisch kann sich besser konzentrieren als der Mensch. Grund für diese rasant zunehmende Unfähigkeit, aufmerksam zu sein: die Digitalisierung des Lebens. Pikant: Die entsprechende Studie ist von Microsoft in Auftrag gegeben worden.

 

 




Was gibt es Gefährlicheres als den Advent?

Man kann die Adventszeit mögen oder nicht – für die Schule war das früher eine stimmungsvolle Zeit. Da brannten Kerzen, es roch nach Guetzli, mit spitzen Scheren wurde farbigen Papierbogen zu Leibe gerückt und Weihnachtslieder schafften es in den Status temporärer Ohrwürmer.

Aber eben: Früher! Dem lasterhaften Leben wurde Einhalt geboten. Und zwar gründlich. Worte wie Weihnachten oder Advent sind von einer Welle politischer Korrektheit aus dem schulischen Sprachschatz weggespült worden. Sie könnten religiöse Gefühle verletzen. Der Samichlaus und vor allem sein Schmutzli müssen sich nun auch den Winter über im finsteren Tann verstecken. Guetzli («Weihnachts» ist vorauseilendem Gehorsam zum Opfer gefallen) bedürfen einer umfassenden Deklaration von Zusatzstoffen und Allergenen. Auch am kalten Gebäck kann man sich deshalb leicht die Finger verbrennen. Und mit den ausgeschnitten grünen Blättern des oh Tannenbaums ist es sowieso vorbei. Spitze Scheren verletzen zwar nicht die Finger – aber die Sicherheitsvorschriften.

Apropos Sicherheit: Die «Anweisungen zu Sicherheits- und Brandschutzvorschriften im Umgang mit Kerzen im Unterricht» umfassen eine ganze Seite. So als seien alle vollkommen bescheuert, wird haarklein festgelegt, zu was die Lehrer sich mit ihrer Unterschrift verpflichten, wenn sie eine Kerze anzünden wollen «zur Erfüllung von bildungsrelevanten Zielen». Weit haben wir es gebracht.