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In der Schule steigt die Betriebstemperatur

Der Winter ist vorbei, es wird wärmer. Und steigende Temperaturen verheissen auch dem Bildungswesen eine zunehmend heisse Phase. Denn: Landauf landab werden mithilfe von Prüfungen Prüfungen vorbereitet, um dann – bei steigender Betriebstemperatur – in Szene gesetzt werden zu können. Die Ergebnisse in Form von Noten werden schliesslich in Berechtigungen umgewandelt. Damit scheint die Kernaufgabe der Bildung erfüllt zu sein: Berechtigungen zu verteilen – für die nächsthöhere Klasse, für die nächsthöheren (akademischen) Weihen, für diesen oder jenen Titel.

Nach der Phase dieser bedeutungsschwanger inszenierten Prüfungsrituale fällt das System in sich zusammen. Der mühselig auswendig gelernte „Stoff“ löst sich in Nichts auf. Und die Zeit der Fluchtvorbereitung bricht an. Nur noch soundsoviele Tage oder Stunden, dann beginnt endlich das, worauf das ganze System schon lange schielt: die Ferien.

Dabei haben Schulferien ursprünglich nichts mit Pädagogik und schon gar nichts mit gestressten Schülern oder Lehrern zu tun. Für die Ferien, wie sie heute noch den Jahresrhythmus des Bildungswesens prägen, gibt es genau zwei Gründe. Zweitens: kirchliche Feiertage – also Ostern und Weihnachten. Und erstens: Erntezeiten- Sommer und Herbst. Das heisst: Die Schulferien dienten gleichsam höheren Zielen – zum Beispiel der Ernte, also der „richtigen“ Arbeit.

Ein wichtiges Strukturelement der schulischen Bildung führt gleichsam zurück in eine völlig andere Zeit, zurück zu völlig anderen Bedingungen und Voraussetzungen. Das gilt genauso für die übrigen strukturprägenden Elemente: Fächer, Jahrgangsklassen, Lehrmittel, Schulstoff, Lektionen, Prüfungen und Zensuren – alles von vorgestern. Das findet sich schon im Antrag zur Verbesserung der Landschulen des Kantons Zürich – aus dem Jahre 1829!

Mit anderen Worten: Was die Schule strukturell heute noch prägt und im Innersten zusammenhält, stammt aus einer Zeit, in der die erste Postkutsche über den Gotthard gefahren ist, die Kinderarbeit verboten wurde und die letzten öffentlichen Hinrichtungen stattfanden. Doch seitdem ist einiges anders geworden. Radikal anders. Entsprechend radikal verändern sich die Ansprüche seitens des Alltages und der Arbeitswelt. Und mit ihnen verändern sich die Menschen als Produkt ihrer Erfahrungen. Eine der Folgen: Heterogenität in all ihren Facetten. Und diese Diversität nimmt zu, wird sichtbarer, virulenter. Kommt hinzu: Heterogenität ist nur einer der gesellschaftlichen Megatrends, die die Schule vor neue Herausforderungen stellen. Kurz: Das Bildungswesen sieht sich konfrontiert mit „anderen“ Ansprüche und „anderen“ Menschen. Das führt im schulischen Alltag teilweise zu erheblichen Schwierigkeiten. Schon das allein wäre eigentlich Anlass genug, sich ein paar grundlegende Fragen zu stellen. Doch man reagiert mit Fächern und Studienrichtungen. Mit Bürokratie und Testbatterien. In sich ablösenden Wellen von operativer Reformationshektik wird jeweils ein bisschen an der Benutzeroberfläche herumgeschönt. Man diskutiert über die Farbe der Postkutsche während unter der Oberfläche der Schnellzug durch den Tunnel braust. Dabei ist eigentlich klar: Das, worum es wirklich geht, findet unter der Oberfläche statt.

 

Das Wie bestimmt das Was

„Was hast du heute?“ „Zuerst Mathe, dann Deutsch.“ Fächer „haben“ – dieses Verständnis prägt die Schule. Lehrer „geben“ Fächer – zum Beispiel eben Deutsch. Und Schüler „haben“ Fächer, zum Beispiel eben Mathematik. Und wenn es nicht funktioniert, dann sind die Schuldigen schnell identifiziert: die Schüler. Sie lernen zu wenig. Sie sind zu dumm, zu faul, zu unkonzentriert. Sie habe die falschen Eltern. Die Liste liesse sich beliebig erweitern. Doch das ist ebenso simpel wie falsch. Denn eigentlich geht es nicht um Mathematik. Es geht ums Lernen – zum Beispiel von Dingen, die mit Mathematik zu tun haben. Wer lernt, verhält sich irgendwie. Und das Ergebnis eines Verhaltens zeigt sich im Resultat – ob es sich um den Dreisatz handelt, den Abwasch in der Küche, ein Fussballspiel oder die Organisation eines Meetings. Die Art und Weise, wie etwas getan wird, bestimmt, was dabei herauskommt. Kurz: Das Wie determiniert das Was.

Das führt aufs Feld von Verhaltensmustern, Gewohnheiten, Charaktereigenschaften. Wer sich beispielsweise über ein hohes Mass an Frustrationstoleranz ausweist, ist schulisch und beruflich signifikant erfolgreicher. Wer über ausgeprägte exekutive Funktionen verfügt, ist gerüstet für einen gelingenden Umgang mit den Aufgaben, die das Leben (oder die Schule) stellen. Und wer den inneren Schweinehund an der kurzen Leine führt, führt in der Regel auch ein besseres Leben. Das ist nicht nur empirisch schlüssig belegt, das erkennt auch, wer einigermassen offenen Sinnes durch die Welt geht.

Deshalb: Es geht ums Lernen. Das nimmt die Bildungsinstitutionen und die Lehrer in die Pflicht, macht sie verantwortlich für den Erfolg der Lernenden. Die Frage ist nicht: Was müssen die Schüler tun, damit sie erfolgreich sind? Die Frage heisst: Was muss ich tun, damit die Schüler das tun, was sie erfolgreich macht? Und nur so nebenbei: „Erfolg“ ist viel mehr als Dreisatz oder Kommaregeln oder Passé Simple oder die Analyse von Kationen in Salzen. Erfolg ist eine Haltung. Und ein Verhalten. Ergo: Lernerfolg ist gebunden an das Lernverhalten. Wenn die Schule also will, dass die Lernenden ihr Tun als erfolgreich und sinnstiftend erleben, dann muss sie sich um eben diese Lernenden kümmern. Um ihr Lernen. Um ihr Verhalten. Dann übernimmt sie die Verantwortung dafür, dass der einzelne Schüler sein Lernen erfolgreich gestaltet. Das setzt ein aktivierendes Interesse an den betroffenen Menschen voraus. Mit gutem Grund: Die Lehrer-Schüler-Beziehung hat zentralen Einfluss auf den individuellen Lernerfolg.

Und: Jeder Mensch lernt anders. Weil er anders ist. Das verlangt, die Schule aus der Perspektive des Lernens zu gestalten, das Lernen zu organisieren. Nicht das Lehren der Lehrer. Klingt trivial. Ist es aber nicht. Denn das ruft nach personalisierten Lernkonzepten, nach Arrangements, die schulisches Lernen zu einer individuell relevanten Angelegenheit machen. Das setzt Widerstandsressourcen frei. Die sind auch nötig. Denn schulisches Lernen ist mitunter recht anstrengend. Es gibt keine Abkürzung. Und man kann es allen Heilsversprechungen zum Trotz nicht outsourcen – weder an die Technik noch an andere Menschen. Es ist gebunden an die eigene Aktivität. Allein das Wort „Lernen“ macht das deutlich. Es geht etymologisch auf die gleichen Wurzeln zurück wie „Leistung“. Und „Leistung“ ist nicht nur positiv konnotiert. Dennoch führt kein Weg daran vorbei: Wer lernen will (oder soll), muss bereit sein, etwas zu leisten. Und wer erfolgreich lernen will, muss bereit sein, mehr zu leisten. Das tut auf Dauer nur, wer Freude hat an der eigenen Leistung.

Wer sich und sein Leben liebt, liebt die Anstrengung. Denn das Leben findet ausserhalb der Komfortzone statt. Daraus ergibt sich eine wichtige Aufgabe für die schulische Bildung: Die Lernenden herauszufordern, damit sie fit werden für ihr Leben. Wie die Welt in einigen Jahren aussehen wird – keine Ahnung. Und welches Fachwissen dannzumal gefordert sein wird – keine Ahnung. Was aber klar ist: Sich selber nehmen die Schüler mit in ihre Zukunft. Sie sind gleichsam ihre eigene Zukunft. Und wenn sie dafür fit sind, in einem umfassenden, multiplen Sinne fit, dann können sie ihrer Zukunft zuversichtlich entgegensehen. Darum geht es.