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Pussyschule

Büne Huber, Frontmann von «Patent Ochsner», hat einen internationalen Hit gelandet. Weniger mit seiner Musik als mit einem launigen Manifest gegen den aktuellen «Pussyfussball». In einem Liveinterview in der Pause eines Eishockeyspiels beklagte er in markigen Worten, dass im Fussball, auf diesem Jahrmarkt der Eitelkeiten (z.B. Tätowierungen), Schein und Bschiss (z.B. Schwalben) das Geschehen dominierten.

Die Parallelen zu den Schulen sind augenfällig. Die Eitelkeiten beziehen sich zwar weniger auf Tattoos und Haarschnitte als auf die Zugehörigkeit zu Schularten (zum Beispiel Gymnasium und Universität). Schein und Bschiss sind aber ebenso weitverbreitet, denn es geht weniger um Inhalte als um Noten und Berechtigungen. Und mit dem ewigen Gejammer über den ach so unerträglichen Stress werden laufend verbale Schwalben produziert. Pussyschule halt.

«Die erschreckenden Bildungsdefizite junger Deutscher» titelt die Welt (11.04.15). Sie bezieht sich auf eine neue Studie, die offenbart, dass immer mehr junge Leute in Ausbildung und Studium kläglich scheitern. Einen Grund ortet man in der weit verbreiteten Kultur des Durchwinkens. Will heissen: Möglichst viele Jugendliche sollen mit dem Tattoo «Gymnasium» herumlaufen. Das hebt die Akademisierungsquote. Und das wiederum macht sich gut in den Statistiken. Und in den politischen Sonntagsreden.

Aber: Es bleibt nicht ohne Folgen. Jedenfalls beklagt die Studie fehlende Grundlagenkompetenzen bei den jungen Leuten – und zwar in erschreckendem Ausmasse. «Die politische gewollte Inflation der Bildungsabschlüsse», so die Welt, sei mit einer «dramatischen Absenkung der Anforderungen» erkauft worden.

Selbst ein flächendeckendes System von Nachhilfe – unverzichtbare Stütze des Schulsystems – könne nicht verhindern, weiss das Blatt zu berichten, «dass heutzutage ein erschreckend hoher Anteil der Lehrlinge und Studenten scheitert». Nötig seien, wird aus der Studie zitiert, neue und verbindliche Mindeststandards.

Klingt auf den ersten Blick vernünftig: Anforderungen – fachliche natürlich – raufsetzen. Und das Problem ist gelöst. Zwar würden sich möglicherweise die Gymnasien und Hochschulen ein bisschen entvölkern. Doch: Neue Standards heben den Bildungsstand nicht. In der Spitze nicht – und schon gar nicht in der Breite. Denn die Probleme lassen sich nicht mit dem Denken lösen, das die Probleme erst verursacht. Eines der Grundprobleme ist diese tief verwurzelte Idee, schulisches Lernen sei dazu da, Standards zu erfüllen. Hier liegt der Hund begraben Denn was hinten rauskommen soll, das bestimmt, was vorne geschieht. Oder wie es Bertrand Russell formuliert hat: «They work to pass and not to know, alas they pass and do not know.»

Das offenbart auch ein Blick auf die Maturaprüfungen der Berner Gymnasien. «Fast die Hälfte aller Maturanden hat in den letzten zwei Jahren eine ungenügende Maturanote in Mathematik geschrieben. Das Fach wird bewusst geopfert», weiss der Bund (04.02.15) zu berichten. Einer der befragten Gymnasialrektoren bringt die Sache auf den Punkt: Die angehenden Maturanden gingen «sehr ökonomisch vor, sie überlegen sich, wie sie mit kleinstem Aufwand zum grössten Erfolg kommen». Nur damit es klar ist: Der Begriff «Erfolg» wird dabei synonym verwendet für «Noten» und «Zulassung». Man nennt das auch «Hochschulreife». Denn dort geht es ja im selben Stil weiter: Welche Veranstaltung liefert mir mit geringstem Aufwand am meisten Punkte für den Bachelor?

Wenn nun also Schulen und Hochschulen mit zunehmendem Personal abnehmenden Erfolg produzieren, woran mag das denn liegen? Die materiellen Voraussetzungen waren noch nie so gut, der Gang an die Futtertröge der schulischen Bildung noch nie so einfach. Und die Bevölkerung wird im Schnitt auch nicht dümmer geworden sein.

Also: Woran liegt es denn?

Es muss an den beteiligten Menschen liegen. An wem oder was denn sonst? Das heisst: Es liegt am einzelnen Schüler und an seinen Fähigkeiten, mit Anforderungen so umzugehen, dass er stärker und klüger aus ihnen hervorgeht. Denn wachsen kann man nur an der Herausforderung.

Das müsste die Schule und ihre Exponenten zur Frage führen: (Wie) Werden junge Menschen in die Lage versetzt, fit zu sein für die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen des Lebens? (Wie) Lernen sie, ihr Lernen und ihr Leben erfolgreich zu gestalten? Und: Welche Beiträge hat die Schule dazu zu leisten?

Dabei geht es nicht um eine egoistische und quantitative Definition von «Erfolg». Es geht vielmehr um so etwas wie «Wertschöpfung». Ein bisschen weniger sperrig: mehr Werte generieren als Kosten verursachen.

Das führt zurück zu Büne Huber und seinem Plädoyer für das Eishockey. Die nordamerikanische Hockeyliga führt seit 1983 eine sogenannte Plus-Minus-Bilanz. Sie gibt für einen Feldspieler die Differenz von Toren und Gegentoren an, die gefallen sind, während er auf dem Eis war. Angeführt wird diese Bilanz von Wayne Gretzky, der im Rufe steht, bester Spieler aller Zeiten gewesen zu sein. Von ihm stammt das bemerkenswerte Zitat: «I skate to where the puck is going to be, not where it has been.» Ein Motto, das im wahrsten Sinne des Wortes Schule machen sollte.

Was braucht es, damit Menschen nicht nur im Eishockey zu einer positiven Plus-Minus-Bilanz kommen? Sie müssen dorthin gehen, wo der Puck kommen wird. Und was ist dort? Das Leben. Das Leben mit seinen vielfältigen und sich verändernden Herausforderungen.

Wie dieses Leben in einigen Jahren aussehen wird, das ist schwer zu sagen. Und welches Wissen die Menschen brauchen werden, auch für eine solche Prognose sollte man nicht leichtfertig die Hand ins Feuer legen. Was die Menschen aber sicher in ihr weiteres Leben mitnehmen werden, ist: sich selber. Daraus leitet sich die eigentlich wichtigste Aufgabe für die Schule ab: sich um die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler zu kümmern. Damit sie sagen können «I am my future» – was immer sie auch bringen mag.

Wer etwas erreichen will, muss etwas tun dafür, eine Leistung erbringen, sich anstrengen. Das verlangt, die Komfortzone zu verlassen, sich – auch gedanklich – dorthin zu begeben, wo es unbequem werden kann. Wie im Eishockey: Eine positive Plus-Minus-Bilanz kriegt, wer sich dorthin begibt, wo der Puck kommen wird. Das ist meist auch der Ort, wo man sich blaue Flecken holen kann.

Nun, blaue Flecken muss man sich ja im schulischen Kontext nicht unbedingt einhandeln. Aber: Komfortzone verlassen, sich den Unbequemlichkeiten stellen, das gilt auch für die Menschen in der Schule. Wer will, dass Schüler erfolgreich sind, muss ihnen etwas zutrauen. Aber mehr noch: muss ihnen auch und vor allem etwas zumuten. Ohne Weichspüler. Denn: Smooth seas do not make skillful sailors. Das klingt weder chillig noch easy. Ist es auch nicht. Und soll es auch nicht sein. Das Leben ist eine Aufgabe. Und wer es als Selbstbedienungsladen versteht muss sich bewusst sein: Irgendeinmal kommt man an der Kasse vorbei.

Was deshalb die Schule ihren Schülern (und dem Personal) versprechen muss: dass es anstrengend sein wird. Herausfordernd. Widerständig. Zuweilen auch unbequem. Dass es keine Abkürzung gibt. Und dass all dies genau das ist, was sie brauchen, um zu wachsen. Um gut zu werden. Um durchzuhalten. Um Widerstände zu meistern. Um stolz sein zu können auf sich. Um sich zu mögen.