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Der Heizwert von Zeugnissen

Ein Blick in die Stellenanzeigen macht deutlich, worauf es ankommt: Die Menschen sollen zuverlässig sein, belastbar und kreativ, sie sollen sich in ein Team einfügen, fähig und willens sein, Verantwortung zu übernehmen, sich auszeichnen durch Engagement und Motivation.

Aber nicht nur in der Arbeitswelt, auch privat ist man in der Regel gut beraten mit Menschen, die charakterlich ein bisschen was drauf haben.

Und niemand käme auf die Idee, dafür irgendeine Note zu geben oder zu verlangen. «Wenn du mit mir zusammensein willst, brauchst du in Teamfähigkeit eine 4,25.» «Und in Zuverlässigkeit läuft nichts unter einer Viereinhalb.» Dort, wo es also quasi um die Wurst geht, verzichtet man auf Noten. Mehr noch: Man kommt schon gar nicht auf den absurden Gedanken.

Dafür fühlt man sich auf den Nebenbühnen des Lebens – in der Schule – bemüssigt, alles und jedes in Noten auszudrücken – auf drei Kommastellen natürlich. Dann kriegt jemand in Deutsch eine 4,015. Nein, vielleicht rundet man die Note auf: 4,02. Getreu dem Motto: Je unklarer die Bezugsnorm, desto beliebiger lässt sich eine Leistung in Noten ausdrücken. Die Forschung zeigt: Im Vergleich zur Notengebung ist Kaffeesatzlesen eine exakte Wissenschaft. Aber die Kommastellen gaukeln Exaktheit vor. Die Stirne in Falten werfen, mit leiser und sorgenschwangerer Stimme die Eltern mit der bitteren Wahrheit konfrontieren: «Ihre Tochter hat leider nur eine nur eine 3,714. Das reicht halt nicht fürs Gymnasium!» Klar. Logisch. 3,714, das reicht nicht. Wahrlich bitter.

Und das Verrückte: Es gibt sogar Menschen, die solchen Quatsch glauben. Unbeirrt. Obschon der Aussagewert von Zeugnissen deutlich geringer ist als ihr Heizwert.