Eltern hatten es leichter – weil sie es schwerer hatten

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Irgendwie hatten es Eltern früher leichter – weil sie es schwerer hatten. Man wusste: die Milch stammt nicht vom Einkaufscenter. Und man wusste: Das Geld kommt nicht vom Bankkonto. Wer etwas will, muss etwas tun dafür – dieser gesellschaftliche Konsens hat die Erziehung massgeblich beeinflusst. Es gab kein Internet, dafür aufgeschürfte Knie und dreckige Fingernägel. An ADHS und Stress konnte man nicht leiden, weil es die Diagnosen noch gar nicht gab. Bei «Frühenglisch» wäre den staunenden Menschen der Unterkiefer ebenso auf die Tischplatte gefallen wie bei «pränataler musikalischer Förderung». Die Kinder waren einerseits eingebunden in die familiären Alltagspflichten. Sie hatten etwas Sinnvolles zu tun. Andrerseits waren sie auch einfach «draussen». Und um sich zu treffen, musste man sich organisieren. Ohne Handy notabene. Und ohne Taxi Mama. Auch der Schulweg fand draussen statt. Er war oft beschwerlich – und entsprechend gesund.

Doch das sind tempi passati. Die saturierte Gesellschaft der Gegenwart will es den Kindern einfacher machen. Bequemer. Sie sollen es besser haben, mehr geboten kriegen. Entsprechend werden die Kinderzimmer elektronisch aufgerüstet und die Bewohner mehr oder weniger sich selbst überlassen. So haben die meisten Eltern keinen Schimmer, wohin sich der Nachwuchs im Netz verkriecht. Aber es gibt auch die andere Seite: Die Kinder werden – als Investitionsprojekt ihrer Eltern – herumgereicht und herumchauffiert, vom Tennis ins Yoga zum Englisch für Höchstbegabte, um sich dann in der Nachhilfe noch am kleinen Latinum abzumühen.

Äussere Hektik wechselt sich ab mit innerer Leere vor dem Bildschirm. Fast zwei Drittel der Kinder möchten mit anderen spielen – selten tun sie es. Weil sie dann doch lieber drin bleiben bei den Steckdosen.

Die «Welt am Sonntag» (28.02.16) schlägt Alarm. Die Kinderkrankheiten sind um eine erweitert worden: Burn-out. Der Nachwuchs kommt mit den Anforderungen des Alltags immer weniger zurecht. Zwei Drittel geben in einer Umfrage an, die Hausaufgaben nur mithilfe der Eltern zu schaffen. Zwei Drittel! Gleichzeitig schaffen sie es aber locker, durchschnittlich mehrere Stunden pro Tag vor Bildschirmen die Zeit mit digitalem Schwachsinn totzuschlagen. Irgendetwas stimmt da nicht.

Um was geht es eigentlich? Die Antwort ist im Grunde genommen einfach: Kinder und Jugendlichen sollten fit sein fürs Leben. Das ist Ziel von Bildung und Erziehung. «Fit» – dafür gibt es über 120 Synonyme. Und alle stehen für positive menschliche Eigenschaften – Eigenschaften und Verhaltensmuster, die einen weiterbringen. Und die einen in die Lage versetzen, die Herausforderungen und Widerständigkeiten des Lebens zu meistern, souverän und unverkrampft.

Davon kann aber beileibe nicht die Rede sein, wenn der Kinderarzt sich mittlerweile auf Burn-out spezialisieren muss statt auf Masern und Röteln.

Das führt die «Welt» zur Forderung: «Kinder müssen lernen, selbstständig zu werden. Dazu gehört, sie den Umgang mit Stresssituationen lernen zu lassen. An Grenzen zu gelangen und sie auch mal zu überschreiten. Das setzt aber vor allem eines voraus; innere Stärke, Selbstvertrauen, die Zuversicht, es bei einem nächsten Anlauf zu schaffen.»

Ja, stimmt, kann man da nur sagen. Und wo lernt man das? Dort, wo es aufgeschürfte Knie und dreckige Fingernägel gibt – auch im übertragenen Sinne.